Tagged: ADHS

ADHS – Vom evolutionären Erbe zur modernen Herausforderung

Featured Image

Manche evolvierten psychischen Mechanismen sind in der modernen Welt nicht mehr zweckmäßig. Unser psychischer Apparat wurde über viele Jahrtausende in Jäger-und-Sammler-Gesellschaften geformt. Mit der Sesshaftigkeit, Landwirtschaft und der Anhäufung von Gütern hat sich die Umwelt des Menschen stark verändert – besonders drastisch in den letzten Jahrhunderten. Da sich das menschliche Genom nur sehr langsam verändert (Pritchard, 2011), passen manche einst nützlichen Anpassungen heute nicht mehr zu unserer Lebensweise. Dieses Phänomen nennt man Mismatch.

Wenn alte Anpassungen nicht mehr passen

Auch die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) könnte ein Beispiel einer solchen Fehlanpassung sein. Sie tritt bei 3–5 % der Kinder auf, häufiger bei Jungen als bei Mädchen, und zeigt eine teilweise erbliche Komponente (Boomsma et al., 2010). Die hohe Prävalenz deutet darauf hin, dass ADHS nicht immer eine Störung, sondern in früheren Zeiten möglicherweise eine vorteilhafte Strategie war (Jensen et al., 1997). Eine sogenannte Minoritätsstrategie – ähnlich wie der linkshändige Boxer, der durch seine Seltenheit Vorteile hat – kann sich in einer Population stabil halten, solange sie nur wenige betrifft.

Früher nützlich, heute hinderlich

In steinzeitlichen Lebensbedingungen waren Hyperaktivität, Impulsivität und sprunghafte Aufmerksamkeit überlebensfördernd:

  • Hyperaktivität half bei der Nahrungssuche und beim Erkunden neuer Gebiete.
  • Vigilante Aufmerksamkeit warnte früh vor Gefahren.
  • Impulsivität war hilfreich in unsicheren, schnell wechselnden Situationen.

In der heutigen Welt – vor allem in Schule oder Beruf, wo Ruhe, Planen und Fokussieren gefragt sind – führen dieselben Eigenschaften jedoch leicht zu Problemen und Konflikten. Der größere historische Selektionsdruck auf Männer erklärt zudem die bis heute sichtbaren Geschlechterunterschiede.

Diagnostische Einordnung

ADHS gehört zu den häufigsten psychischen Auffälligkeiten im Kindes- und Jugendalter. Die Kernsymptome (nach DSM-IV und ICD-10) sind:

  • Hyperaktivität – zappelig, ständig in Bewegung, immer auf Achse
  • Impulsivität – nicht warten können, andere unterbrechen
  • Unaufmerksamkeit – Flüchtigkeitsfehler, Ablenkbarkeit, Vergesslichkeit

Diese Symptome müssen:

  • über mindestens 6 Monate bestehen,
  • vor dem 6.–7. Lebensjahr auftreten,
  • in mehreren Lebensbereichen vorkommen (z. B. Schule, Familie, Freundeskreis).

Das DSM-IV unterscheidet:

  • ADHS-C (kombiniert) – unaufmerksam & hyperaktiv
  • ADHS-U (unaufmerksam)
  • ADHS-HI (hyperaktiv-impulsiv)

Prävalenz

Eine Metaanalyse (Polanczyk et al., 2007) ermittelte eine weltweite Prävalenz von 5,29 %. Jungen sind etwa dreimal häufiger betroffen als Mädchen. Auch im Erwachsenenalter bleibt ADHS bei vielen bestehen – Schätzungen liegen bei 4–5 % (Davidson, 2008).

Verlauf und Folgen

Unbehandelt zeigt ADHS oft einen ungünstigen Verlauf mit schulischen und beruflichen Schwierigkeiten; geringem Selbstwertgefühl; Konflikten mit Eltern, Lehrern, Partnern und häufigen komorbiden Störungen wie Depression, Substanzmissbrauch oder sozialem Rückzug.

Diagnostik und Therapie

Die Diagnose erfordert eine multimodale Untersuchung: Klinische Interviews (z. B. K-SADS-PL), Fragebögen, Aufmerksamkeitstests, Tests, die zusätzlich Bewegungsaktivität messen.

Behandlung

Je nach Schweregrad: Pharmakotherapie (z. B. Methylphenidat) und Verhaltenstherapie (Selbstregulation, Elternarbeit, Lehrertraining), oder eine Kombination beider Ansätze. Auch Neurofeedback und Verhaltenstrainings zeigen in Metaanalysen gute Ergebnisse (Fabiano et al., 2009).

Risikofaktoren für ADHS

Biologische Faktoren

  • Genetische Dispositionen im Neurotransmitterstoffwechsel (v. a. Dopamin, Serotonin)
  • Störungen der Selbstregulation und neuropsychologischen Funktionen (Arbeitsgedächtnis, Affektregulation, Handlungsplanung)

Umweltfaktoren

  • Pränatal: Alkohol- oder Tabakkonsum in der Schwangerschaft
  • Postnatal: Familiäre Dysfunktion, niedriger sozioökonomischer Status
  • Soziale Interaktionen: Hohe elterliche Kritik, Feindseligkeit, geringe emotionale Wärme

Gene, Gehirn und Umwelt – eine kritische Betrachtung

In der Psychotherapie wird häufig behauptet, strukturelle Unterschiede im Gehirn seien die Ursache von ADHS (Shaw et al., 2007). Doch wie bei Muskeln gilt: Eine stärkere Struktur ist nicht die Ursache, sondern die Folge von Gebrauch oder Erfahrung. Ähnlich zeigen Studien (Smith, 2005), dass z. B. ein kleinerer Hippocampus nach Kriegstraumata nicht Ursache, sondern Folge des Traumas ist. Das Leiden entsteht also im Leben, nicht im Gehirn.

Genetische Einflüsse auf Besorgnis und Stimmung

Bredemeier et al. (2014) fanden, dass das 5-HTTLPR-Gen in Verbindung mit ADHS (langes Allel) oder Depression (kurzes Allel) steht. Gene wie BDNF können zusätzlich Einfluss nehmen – doch auch hier gilt: Gene bestimmen keine Schicksale, sondern eröffnen Möglichkeiten.

Fazit

ADHS ist kein simples Defizit, sondern ein komplexes Zusammenspiel aus evolutionären, biologischen und sozialen Faktoren. Was in der Wildnis einst Überleben sicherte, kann in der modernen Welt zur Herausforderung werden. Vielleicht ist ADHS weniger eine Störung und mehr ein Anpassungsproblem an eine unnatürliche Umwelt.

Literatur:

  • Boomsma, D. I., Saviouk, V., Hottenga, J.-J., Distel, M. A., de Moor, M. H., Vink, J. M. et al. (2010). Genetic epidemiology of attention deficit hyperactivity disorder (ADHD index) in adults. Public Library of Science One, 5 (5): e10621. doi:10.1371/journal.pone. 0010621.
  • Bredemeier, K., Beevers, C. G., & McGeary, J. E. (2014). Serotonin transporter and BDNF polymorphisms interact to predict trait worry. Anxiety, Stress, & Coping, 27, 712–721.
  • Davidson, M. A. (2008). ADHD in adults. A review of the literature. Journal of Attention Disorders, 11, 628-641.
  • Fabiano, G. A., Pelham, W. E., Coles, E. K., Gnagy, E. M., Chronis-Tuscano, A. & O’Connor, B. C. (2009). A meta-analysis of behavioral treatments for attention-deficit/hyperactivity disorder. Clinical Psychology Review, 29, 129-140.
  • Jensen, P. S., Mrazek, D., Knapp, P. K., Steinberg, L., Pfeffer, C., Schowalter, J. et al. (1997). Evolution and revolution in psychiatry: ADHD as a disorder of adaptation. American Academy of Child and Adolescent Psychiatry, 36, 1672−1679.
  • Polanczyk, G., de Lima, M. S., Horta, B. L., Biederman, J. & Rohde, L. A. (2007). The world-wide prevalence of ADHD: A systematic review and metaregression analysis. American Journal of Psychiatry, 164, 942-948.
  • Pritchard, J. K. (2011). Evolution auf der Kriechspur. Spektrum der Wissenschaft, März, 28−37.
  • Shaw, P., Eckstrand, K., Sharp, W., Blumenthal, J., Lerch, J. P., Greenstein, D., Clasen, L., Evans, A., Giedd, J. & Rapoport, J. L. (2007). Attention-deficit/hyperactivity disorder is characterized by a delay in cortical maturation. Proceedings of the National Academy of Sciences, 104, 19649–19654.
  • Smith, M. E. (2005). Bilateral hippocampal volume reduction in adults with post-traumatic stress disorder: a metaanalysis of structural MRI studies. Hippocampus, 15, 798–807.

Bilder: