Grenzen, ein spannendes Thema. Ein Dauerthema? Ich hoffe doch mal nicht. Oder vielleicht doch? Immer wieder in unserem Leben stoßen wir an Grenzen. Unsere eigenen oder die anderer. Wir kommen ins Büro und öffnen das Fenster, jemand fühlt sich plötzlich angegriffen und reagiert mit unliebsamen Kommentaren. Wir bewegen uns in der Innenstadt und jemand schneidet uns mit dem Fahrrad. Wir fallen vielleicht fast dabei hin. Der Fahrradfahrer fährt einfach weiter. Vielleicht gibt es aber auch Menschen in deinem Leben, die dich regelrecht anzapfen, wie emotionale Vampire. Und du? Du tust dir schwer dich gegenüber diesen Menschen abzugrenzen, ein klares Nein auszusprechen, bzw. deine Bedürfnisse in diesem Moment zu kommunizieren. Steigen wir beim letzten Beispiel mal ein wenig mehr ein.

Subjektiv und zeitlich instabil

Grenzen sind etwas subjektives, etwas zeitlich instabiles. Mal sind die Räume innerhalb der Grenzen weiter gesteckt, mal sind sie sehr eng. Du bist in deinen Zwanzigern und bist von gewissen Verhalten gekränkt. Das gleiche Verhalten mag dich vielleicht gar nicht mehr stören in deinen Vierzigern. Vielleicht ist etwas neues dazu gekommen. Instabilität ist toll, denn das bedeutet lediglich, dass Themen, vor denen wir uns abgrenzen möchten, sich zeitlich ändern können. Und die Themen an sich sind hoch subjektiv, abhängig von deinem gesamten Leben, also deinen Erlebens- und Verhaltensmustern.

Doch manchmal scheint es schwieriger zu sein, sich abzugrenzen. Was oft zurück bleibt, ist eine Kränkung, denn auch du, wie jeder andere Mensch eben auch, möchtest in deinem So-Sein wertgeschätzt und geliebt werden. Aber nicht um jeden Preis. 

Kränkung ohne böse Absicht

Oft passieren diese Grenzüberschreitungen unabsichtlich. Aus dem Grund kann man dem Kränkenden keine Verantwortung bzw. Schuld zusprechen. Die Absicht wäre somit ausgeräumt. Wenn Kränkungen beim Gekränkten erlebt werden, geht dem meist eine Kränkung beim Kränkenden voraus. Es handelt sich somit um eine Reaktion auf eine vorher getätigte Aktion. Das ist die zu Grunde liegende Tragik (Staemmler, 2016). Diese Tragik kann auch viel mit Macht zu tun haben. Wie zeigt sich diese Macht?

Macht kann sichtbar werden und zwar in Blicken, Gegen und Verhaltensweisen. Die Stimme ändert sich, sowie auch die Wortwahl. Sie hinterlässt auf jeden Fall eine Wirkung. Oft ist sie dem Grenzüberschreitenden, dem Urheber der Macht, nicht bewusst. Warum eigentlich nicht? Vielleicht liegt es daran, dass diese Person einfach so viel um die Ohren hat, dass es mit dem Spüren schwer wird. In anderen Worten, die Person, die verletzt, spürt nicht, dass sie verletzt. Das wäre die eine Seite. Die andere Seite wäre die der verletzten/gekränkten Person. Eine Kränkung geht auch immer mit einer Bewertung einher. Ohne Bewertung, keine Kränkung.

Macht, Ohnmacht und Selbstermächtigung

Wilhelm Schmid (2016) schreibt in seinem Buch, dass die Person sich selbst ermächtigt, die mit sich im Reinen ist. Diese Person denkt selbst und ist auch fähig, Abstand zu sich zu nehmen, um Dinge von einer andere Warte aus zu betrachten. Schmid stellt hier vier Grundfragen dar, auf welche die selbstermächtigte Person Antwort geben kann.

  1. Was ist meine Macht und meine Ohnmacht in Bezug auf mich selbst? Will ich in diesem Zustand bleiben oder etwas verändern?
  2. Was ist meine Macht über andere, sowie deren Ohnmacht? Wie kann ich Macht möglichst klug und rücksichtsvoll einsetzen?
  3. Was ist die Macht Anderer über mich, sowie meine Ohnmacht? Wie komme ich da raus?
  4. Wie funktionieren Machtstrukturen generell in unserer Gesellschaft? Kann ich damit umgehen, oder muss ich dem ganzen entgehen?

Das sind vier sehr interessante Fragen. Ich möchte hier näher auf die dritte Frage eingehen. Wie komme ich da nun wieder raus? Vielleicht in dem ich lernen Nein zu sagen.

Nein Sagen lernen

Es kann nicht das Ziel nein, immerzu nein zu sagen. Doch ab und zu ist es mehr als notwendig. Denn hinter jedem Nein steht auch ein starkes Ja. Dieses Nein ist ein Haltung, eine Haltung die nach außen wirkt. Die Haltung muss dafür allerdings im Inneren verfestigt werden. Die Haltung betrifft die eigenen Werte, Bedürfnisse und Wünsche. 

Kirstin Nickelsen (2018) bringt in ihrem Buch eine gute Übung dafür, welche eine erste Differenzierung darstellt. Nehme dir dafür ein Blatt Papier, unterteile es in zwei Spalten. Auf der linken Seite steht, was du in Zukunft mit einem klaren Nein erreichen möchtest. Auf der rechten Seite steht, was du nicht mehr willst. Die Konzentration dieser Differenzierung geht dann wieder zur linken Seite. Und, schreibst du schon? Das wäre die erste Übung.

Den Körper mit ins Boot nehmen

Nein zu sagen ist kein leichtes Gebiet, sofern ein Mensch, das Leben zuvor ein notorischer Ja-Sager war. Nein zu sagen hat sehr viel mit der Wahrnehmung des eigenen Raums, sowie der Akzeptanz des inneren Ja´s zu tun. Wenn ich dem Ja in mir näher komme, komme ich auch dem Nein, welches ich nach außen sende, näher. Dieses Nein stellt bereits eine Grenzziehung dar. Cornelia Hammer (2020) gibt dazu eine sehr gute Übung. Wie schließe ich denn nun Freundschaft mit dem eigenen Nein. 

Dafür nehme dir noch einmal die Liste von vorher, nehme einen Punkt von dieser Liste von der linken Seite und beginne bei dir zu Hause. Stelle dir diesen Punkt vor und sage laut “nein”. Dann werde noch ein wenig lauter. Wenn du magst schreie das Nein heraus. Wenn laut unangenehm ist, versuche es mit leise. Nachdem du das Nein, mehrere Male ausgesprochen hast, lege deine Hand auf den Herzbereich und mache kleine kreisende Bewegungen, bzw. tätschele deinen Herzbereich. Atme dabei, nehme deine Atmung wahr, nehme die Gefühle war, welche in diesen Moment auftauchen. Nehme auch die Gedanken wahr, welche eventuell noch einen Widerhall von früher darstellen, welche noch dagegen sind. Mache diese Übung mehrere Male und wenn du magst, mache kein kurzes Nickerchen von fünf Minuten und spüre, was sich in deinem Körper verändert hat. Das wäre die zweite Übung. 

Den Atem mit einbauen

Gehen wir davon aus, du möchtest nun diese Grenzen auch nach außen kommunizieren. Du hast deine Liste gemacht, du hast zu Hause das Nein eingeübt. Nun wäre der nächste Schritt dran, dem Gegenüber diese Grenze mitzuteilen. Was du davor noch tun kannst ist eine Übung. Ich nenne sie “Ich bleibe bei mir, bei meiner Atmung”. Wenn du im sozialen Raum mit anderen Menschen unterwegs bist, und dich bei einem Ja ertappst, aber eigentlich Nein sagen möchtest, sei dir nicht böse deswegen. Probiere beim nächsten ein innerliches Stop zu setzen. Wie erreichst du das? Mit Atmen. 

Wenn du magst, lege eine Hand auf den Bauchraum und eine Hand auf den Brustkorb und mache 3-5 Atemzüge. Nehme wahr, wo sich diese Atmung ereignet. Versuche, sofern du es schaffst, mehr nach unten zu atmen, in die untere Hand, welche auf dem Bauch liegt. Entspanne so gut es dir möglich ist in die Ausatmung hinein. Wenn du damit ein Lücke schaffen kannst, gibt es dir die Möglichkeit zu überlegen, was du eigentlich sagen möchtest. 

Für den Fall, dass in der Situation nicht der zeitliche Rahmen besteht, der dich atmen lässt. Ist es möglich, die Situation zu verlassen? Wenn ja, super. Wenn nein, versuche es dennoch, vielleicht ohne Handauflegen für 3-5 Atemzüge und eventuell folgenden Satz: “Entschuldige bitte, ich will da mal kurz nachspüren”. Der Satz mag bei manchen Menschen nicht gut ankommen. Das ist allerdings nicht dein Problem, oder die Engländer sagen, “that is not my cup of tea”. Nun zur Kommunikation.

Friedlich und gewaltfrei

Vielleicht möchtest du sowenig wie möglich mit Gewalt kommunizieren, friedlich, leise und langsam. Dann wäre die Gewaltfreie Kommunikation nach Rosenberg (2005) eine wirklich tolle Methode. Bei der GfK wird nicht beschuldigt und kritisiert, sondern emphatisch und ehrlich kommuniziert. Menschen, die anderen sagen, was sie tun sollen, wollen sich überlegen fühlen, weil sie schwach sind. Bei der GfK gibt es keine Hierarchie, sondern ein Ich und ein Du auf Augenhöhe.

Es ist die Sprache des Herzens. Unser Herz wird uns sagen, was ein Bedürfnis ist und wann eine Person so handelt, wie sie handelt, und warum ich so handle, wie ich handle. In der GfK bist du der Herr deiner Gefühle. Andere Menschen können uns nicht durch das, was sie tun oder sagen, ein schlechtes Gewissen machen, wenn wir in unserem Herzen sind.

Es ist die Sprache, um Bedürfnisse auszudrücken. Bedürfnisse zu haben ist nicht unreif und auch nicht egoistisch. Liebevolle Frauen haben auch Bedürfnisse, sowie auch liebevolle Männer. Tapfere Männer haben auch Bedürfnisse, sowie auch tapfere Frauen. Liebe ist ein Bedürfnis und kein Gefühl. Bedürfnisse sind universell. Ein Bedürfnis, geschätzt, geschätzt zu werden, Empathie zu bekommen, Verständnis zu erlangen. Sicherheit ist dabei eine Notwendigkeit. Wenn die Sicherheit verletzt wird, kann es zu Gewalt kommen und gewaltvolle Kommunikation macht es schwierig, einen Konflikt zu lösen. Verwandle daher gK in GfK. Wie könnte diese Kommunikation nun aussehen. 

Die vier Schritte

Gehen wir mal davon aus, du bist in einer Situation in der du Nein sagen willst. Im Speziellen, du möchtest vielleicht nicht immer zur Verfügung stehen, immer dann wenn andere dich brauchen.

  1. Schreibe als erstes deine Beobachtung auf, was dich mit einer anderen Person stört. Wichtig dabei: nicht bewerten, nicht urteilen, nicht diagnostizieren, nur beschreiben. Also schreibe nicht auf, was du denkst, sondern das beobachtbare Fall ist.
  2. Schreibe dann dein Gefühle auf. "Ich bin traurig, beunruhigt, wütend...." Wenn du "Ich fühle mich missverstanden" schreibst, wird es zu einer Diagnose. Gefühle sagen uns, ob unsere Bedürfnisse erfüllt werden oder nicht. "Ich fühle mich schlecht, wenn du das tust" kann Schuldgefühle erzeugen.
  3. Schreibe nun das Bedürfnis auf, das mit der anderen Person, die dieses Gefühl verursacht hat, nicht erfüllt wurde. Bedürfnisse sind vielseitig: Nahrung, Sicherheit, Verständnis, Liebe, Erholung, Kreativität, Gefühl der Sicherheit, Autonomie, Bedeutung. Hier geht es darum, wie du dein Gefühl mit deinem Bedürfnis verbindest. Das ist Empathie. Jede Person handelt, um ihre Bedürfnisse zu erfüllen. Jede Person versucht, ihr Bestes zu geben, um ihre Bedürfnisse zu erfüllen. Manchmal ist es nicht förderlich für uns, denn verschiedene Menschen verwenden unterschiedliche Strategien, um ihre Bedürfnisse zu erfüllen. Manche Menschen wissen nicht, wie sie ihre Bedürfnisse ausdrücken sollen. Manchmal erfüllen Menschen ein Bedürfnis auf Kosten eines anderen Bedürfnisses.
  4. Schreibe schließlich eine klare Anfrage. Auch hier ist es wichtig keine Forderungen, keine Kritik zu äußern. Bleibe dabei, wenn möglich in der Gegenwart. Eine Bitte ist eine positive Handlungssprache in der Gegenwart, immer in Bezug auf das, was wir wollen und nicht in Bezug auf das, was wir nicht wollen. Die einfachst Anfrage, welche ich selbst schon oft genutzt habe, wäre: “Ich würde gerne wissen, was du soeben gehört hast”. Dann warte ab, was die andere Person sagt.

Nehmen wir ein Beispiel

Nennen wir die beiden mal Max und Lisa. Max kommt immer, wenn er etwas braucht und will dann sofort seinen Wunsch erfüllt haben. Lisa sagte bis jetzt immer Ja, doch nun, nachdem sie 3x geatmet hat, fühlt sie sich stark genug, ihre Bedürfnisse zu kommunizieren. 

Beispiel: Lieber Max, du bist vorhin zu mir gekommen mit dem Wunsch, dass ich etwas für dich tue (z.B. den Müll raus bringen, zusammen Essen gehen - allerdings nur da wo Max will, oder Max uneingeschränkt zustimmen bei seinen Weltsichten). Ich nahm eine Unruhe in mir wahr. Ich fühlte ein klein wenig unter Druck gesetzt. Mir ist mittlerweile bewusst, dass dies mit meinem Bedürfnis nach Selbstbestimmung zu tun hat. Ich möchte selbst bestimmen, wann ich etwas tue und nicht tue. Magst du mir bitte mitteilen, was du gehört hast?

Am Ende angekommen

Grenzen können ein Dauerthema sein. Das ist auch nicht schlimm, es kommt darauf an, wie ein Mensch es schafft, bei sich zu bleiben, sich zu zentrieren, zu lernen Nein zu sagen und die Bedürfnisse in der Ich-Form zu kommunizieren. Wir werden weiterhin in unserem Leben an Grenzen stoßen und manchmal bricht etwas über unsere Grenze einher. Vielleicht helfen dir diese Übungen ein wenig, mehr bei dir zu bleiben. 

Literatur:

  • Hammer, Cornelia (2020). Im Körper zu Hause sein. Mit Zapchen Somatisch zu Leichtigkeit und Wohlbefinden. Heidelberg: Carl-Auer Verlag
  • Nickelsen, Kirstin (2018). Ja zum Nein. Selbstachtung statt Harmoniesucht – Mit Sofort- Übungen für den Alltag. Wiesbaden: Springer
  • Rosenberg, Marshall B. (2005). Nonviolent Communication: A language of life. Nonviolent Communication Guide. Encinitas: Puddle Dancer Press
  • Schmid, Wilhelm (2016). Das Leben verstehen. Von den Erfahrungen eines philosophischen Seelsorgers. Berlin: Suhrkamp
  • Staemmler, Frank-M. (2016). Kränkungen, Verständnis und Bewältigung alltäglicher Tragödien. Stuttgart: Klett Cotta

Bilder: