Gibt es eigentlich einen Zusammenhang zwischen Bindung und Schmerz, zwischen Bindungsverhalten und Schmerzwahrnehmung? Dies wurde in einer Übersichtsarbeit (Pfeifer et al., 2016) untersucht. In Kürze lässt sich folgendes sagen. Ein unsicherer Bindungsstil geht mit einer erhöhten Wahrnehmung von Bedrohung einher, was Angst erzeugt. Diese Angst erzeugt Stress. Stress verstärkt die Schmerzwahrnehmung. Dies führt zu noch mehr Angst und somit zu noch mehr Stress und somit zu noch mehr Schmerz. Das Bindungsmuster sowie das daraus resultierende Bindungsverhalten haben in der Tat Einfluss, insbesondere auf chronische Schmerzen.

Bindungsmuster sind wichtig. Noch wichtiger ist es, diese zu verstehen, denn sie beeinflussen höchstwahrscheinlich das ganze Leben. Hier soll es nur um das Thema chronische Schmerzen gehen. Wenn Schmerzen chronisch werden, d.h. wir sprechen von mindestens sechs Monaten und darüber hinaus besteht eine höhere Wahrscheinlichkeit der Chronifizierung. Genau hier haben psychologische Faktoren eine bessere Vorhersagekraft als biomedizinische und sozioökonomische Faktoren (Hasenbring et al., 2001). Zu psychologischen Faktoren, welche zu einer Schmerzchronifizierung beitragen, zählen unter anderem die Tendenz zur Katastrophisierung, Depression, Angst und Stress. Und diese Faktoren hängen eng mit einem unsicheren Bindungsstil zusammen (Sund & Wichstrøm, 2002). Sie fanden heraus, dass eine unsichere Bindung zu den Eltern zu der Entwicklung schwerer depressiver Symptome bei jungen Heranwachsenden beitragen kann.

Chronische Schmerzen sind insofern ein Problem, als das die Warn- u. Schutzfunktion, was bei akuten Schmerz der Fall ist, hier ihre Wirkung verliert. Die Chronifizierung von Schmerzen stellt somit einen eigenen Krankheitswert dar. Jetzt ist es so, dass Menschen mit chronischen Schmerzen ein breites Spektrum an Beeinträchtigungen erfährt. Sie schreiben diesen Beeinträchtigungen eine körperliche Ursache bei, trotz mehrerer Untersuchungen von medizinischen Fachpersonal, welche meist nichts organisches finden können. Das führt letztlich zu einem nicht endenden Kreislauf, einem Rennen nach Diagnostik, die in diesem Fall nichts finden kann, da die Ursache auf einer anderen Ebene anzusiedeln ist. Es ist wichtig den Zusammenhang von einem dysregulierten Bindungsverhalten und chronischen Schmerzen zu betrachten (Egle & Nickel, 2003).

Ein Kind schreit. Manchmal klammert ein Kind. Und das nur zu seinem evolutionären Vorteil. Denn Schreien und Klammern führen bei den Eltern zu einem speziellen Verhalten: Fürsorge und Nähe, Schutz und Bedürfnisbefriedigung. Dieses Verhalten kommt immer dann, wenn im Kind selbst oder im Außen etwas belastendes bzw. etwas bedrohliches passiert (Reebye, 2010). Jetzt nimmt das Sicherheitsverhalten des Kindes zu, zu Lasten des Explorationsverhaltens. Exploration ist wichtig, denn hier lernt das Kind Kontakt mit der Außenwelt aufzunehmen, diese sozusagen zu erkunden, immer aus dem Hintergrund einer sicheren Bindung heraus. Wenn diese sichere Bindung nicht vorhanden ist, wird das Explorationsverhalten zurückgefahren. Das ist dann der Fall, wenn die primären Bezugspersonen als inkonsistent, abweisend und/oder unzuverlässig wahrgenommen werden. Aus dieser Wiederholung dieser Erfahrungen heraus, entstehen dann unsichere Bindungsmuster und dysfunktionale Verhaltensweisen und dies hat eine sehr große Auswirkung darauf, wie im Erwachsenenalter mit Erkrankung umgegangen wird. Dies wird in der folgenden Tabelle gegenübergestellt.

Sicheres BindungsmusterUnsicheres Bindungsmuster
Sucht angemessen nach HilfeEs kommt zur Hyperaktivierung (Anklammern) oder zur Deaktivierung (Vermeiden) oder beides (Ambivalent)

AnklammernAmbivalentVermeiden

Bindungsbedürfnis sehr hoch, Symptome werden dramatisiert, anhänglichWenig bis keine Selbstwirksamkeit, Annäherungs-Vermeidungs-VerhaltenBindungsbedürfnis wird abgelehnt, Symptome werden bagatellisiert, Autonomie und Kontrolle wichtig
Hier entsteht Beziehungsfähigkeit, Stress- und Emotionsregulation sowie ResilienzHier entstehen dysfunktionale Verhaltensweisen im Umgang mit Schmerzen

Wie aus der Tabelle zu sehen ist, führt eine Hyperaktivierung zu einen klammernden Verhalten. Man kann sich ja nie sicher sein, ob sie den Schutz bekommt. Daraus kann ein Gefühl entstehen, immerzu dafür zu kämpfen. Im Gegensatz dazu, die Deaktivierung. Hier wurde gelernt, dass es nicht hilfreich ist, Bindungsverhalten zu zeigen, Hilfe zu suchen, da keine Reaktion zu erwarten ist. Die wahrgenommene Bedrohung wird verdrängt. Man kann sich ja nur auf sich selbst verlassen. Der ambivalente Bindungsstil kombiniert den geringen Selbstwert und die Sucht nach externer Hilfe des anklammernden Bindungsstils mit der Angst vor Verletzung des vermeidenden Bindungsstils.

Pfeifer und Kollegen (2016) gingen bei ihrer Übersichtsarbeit folgenden Fragen nach:

  • Gibt es einen Zusammenhang zwischen Bindungsunsicherheit und chronischen Schmerzzuständen?
  • Welchen Einfluss hat Bindung auf die Schmerzintensität?
  • Hängt das Bindungsverhalten mit passiven Copingstrategien wie der Schmerzkatastrophisierung zusammen?
  • Gibt es eine Verbindung zwischen Bindungsrepräsentation und funktioneller Beeinträchtigung?
  • Können Bindungsmuster die Behandlung chronischer Schmerzen in einem multimodalen Setting beeinflussen?

Bindungsunsicherheit und chronische Schmerzen

Meredith und Kollegen (2008) konnten eine unsichere Bindung als einen Vulnerabilitätsfaktor für die Entwicklung und Aufrechterhaltung von chronischen Schmerzzuständen. Diesen Zusammenhang konnten Porter und Kollegen (2007) in ihrer Arbeit bestätigen. Diese Erfahrung der unsicheren Bindung in der Kindheit hat Auswirkungen auf das Nervensystem, insbesondere die Stressregulation. Maunder und Hunter (2001) konnten nachweisen, dass der Bindungsstil zu individuellen Unterschieden in der physiologischen Stressantwort führt. Dies geht dann zudem einher mit einer Beeinträchtigung der Affektregulation, eine erhöhte Anfälligkeit für Stress und ungünstigen Hilfesuchverhalten. Kowal und Kollegen (2015) zeigten in ihrer Studie, dass somatoforme Schmerzen bei unsicher gebundenen Schmerzpatienten wesentlich häufiger auftreten als bei Nichtschmerzpatienten.

Schmerzintensität und Bindung

In der Tat, konnte auch der Zusammenhang zwischen unsicherer Bindung und Schmerzintensität in Studien festgestellt werden (Kowal et al., 2015). Meredith und Kollegen (2006) fanden heraus, dass die Schmerzintensität besonders stark beim ängstlichen Bindungsstil ausgeprägt ist. Dies hat auch Auswirkungen auf die Selbstwirksamkeit, welche in diesem Fall vermindert ist und somit als gute Vorhersage für die Schmerzintensität herangezogen werden kann. Avagianou (2010) konnten diesen Zusammenhang auch bestätigen. Dieser war besonders stark ausgeprägt, wenn ein Kind wenig mütterliche Zuneigung bekam. Dieses Kind zeigte im Erwachsenenleben eine erhöhte Schmerzwahrnehmung. Der Zusammenhang konnte auch bei 200 Migränepatienten bestätigt werden (Rossi et al., 2005).

Schmerzkatastrophisierung

Es gibt eine Verbindung zwischen den frühkindlichen erworbenen Bindungsmustern und der Schmerzkatastrophisierung. Eine unsichere Bindung gilt hierfür als Risikofaktor. So neigen ängstlich gebundene Menschen häufiger zu Depressionen und somit auch zu Schmerzkatastrophisierung (Ciechanowski et al., 2003). Den Zusammenhang zwischen Ängstlichkeit und Schmerzkatastrophisierung konnten auch Tremblay und Sullivan (2010) bestätigen. Zudem fanden sie heraus, dass Menschen mit einem vermeidenden Bindungsmuster weniger als ängstliche gebundene Menschen diese Zusammenhang aufzeigen. Andrews und Kollegen (2014) fanden einen Zusammenhang zwischen einem unsicheren Bindungsstil, Schmerzkatastrophisierung und verminderter körperlicher Aktivität. Eine weitere Studie bestätigte den Zusammenhang zwischen erhöhter Bindungsangst und einer bedrohlichen Schmerzbewertung (Meredith et al., 2005).

Beeinträchtigungserleben

Eine unsicher gebundene Person hat Auswirkungen auf die Selbstwirksamkeit, welche schrumpft. Die verminderte Selbstwirksamkeit wirkt sich auf die Schmerzintensität aus. Dadurch entsteht eine subjektive Beeinträchtigung, welche sich in mehreren Lebensbereichen zeigt (Meredith et al., 2006).

Auswirkungen der Bindungsmuster auf den Therapiererfolg

Unsicher gebundene Menschen erleben wenig Verbesserung in der Selbstwirksamkeit sowie Depressivität (Kowal et al., 2015) nach Therapieende. Zudem konnte eine vermehrte Opioideinnahme und eine Bindungsvermeidung nach einem 13-wöchigen Schmerzmanagementprogramm beobachtet werden (Andersen, 2012). Ängstliche anklammernde Personen tendieren auch viel öfters dazu, Ärzte aufzusuchen, als sicher gebundene Personen (Andersen, 2012; Ciechanowski et al., 2003).

Und nun?

Das menschliche Gehirn unterscheidet nicht zwischen Bewegung und Imagination. Das wissen wir aus der Feldenkrais Praxis. Das menschliche Gehirn unterscheidet auch nicht zwischen körperlichen und seelischem Schmerz. Eisenberger und Kollegen (2003) konnte dies belegen. Bei emotionalem Schmerz aufgrund sozialen Ausgeschlossenseins werden die gleichen Gehirnareale wie bei physischem Schmerz aktiviert. Daraus lässt sich klar eine Interventionsstrategie ableiten, nämlich den Fokus auf zwischenmenschliche Beziehungen zu legen, d.h. Arbeit an sozio-emotionalen Fähigkeiten, Regulation der Angst, Herstellung von Nähe zu anderen Personen, und vor allem, Herstellung einer sicheren Basis aus Ausgangspunkt für eine etwaige therapeutische Arbeit. Bei der therapeutischen Arbeit ist gerade der Vertrauensaufbau die entscheidende Variable (Damasio, 2005).

Literatur:

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