Exploration: Lebensthemen
Nimm dir kurz ein paar Minuten Zeit. Setze dich in eine bequeme Position und lese dir folgende Fragen durch. Wenn du magst, mache dir dazu Notizen. Welche Fantasien hattest du als Kind (vor dem 13. Lebensjahr), als Jugendlicher (13-19 Jahre) und als junger Erwachsener (20-24 Jahre)? Welche hast du anderen mitgeteilt, welche für dich behalten? Sind diese Fantasien im Moment noch präsent, mental oder real? Gibt es neue Fantasien?
Assoziative Verbindungen prägen mein Leben. So löste einst die Aussage eines anderen Menschen “alles ist eine Momentaufnahme” bei mir eine Verlassenheitsangst aus. So löste einst die Aussage “wir leiden doch alle, jetzt hab dich nicht so” Wut aus, keine Anerkennung für mein Leid zu bekommen. So löste einst die Aussage “ich drehe mich nur um mich” Panik aus, nicht zu wissen, wie es weitergehen könnte, denn ich möchte ja zu mir kommen und dennoch mit anderen sein. Diese Panik, Menschen verlieren zu können, fror mich regelrecht ein und ich machte einen Schritt von mir weg, verlor mich und die Menschen. Aber da ist der Moment! Heureka! Tiefes Leid führt über tiefe Liebe hinein in die Tiefen und Weiten des Lebens.
Assoziative Verbindungen prägen also Ausschnitte meines Lebens, wenn ich mich darum kümmere. Es gibt einfache Assoziationen, wie z.B. naß und Wasser, oder, dunkel und Nacht. Und es gibt schwierige Assoziationen. Schwierig sind diese für mich, da sie sehr schwer zu durchschauen sind. Das sind solche, bei denen Erinnerungen, insbesondere verdrängte Erinnerungen, persönliches triggert. Es sind persönliche Angelegenheiten. Carl Gustav Jung nannte es Komplexe. Komplexe sind internalisierte, generalisierte konflikthafte Beziehungserfahrungen, emotional behaftet, mit einem Beziehungsthema verknüpft, welches in einer Überreaktion oder gar keiner Reaktion resultiert und sie unterliegen dem Wiederholungszwang. Jeffrey Young, Begründer der Schematherapie, würde heute wahrscheinlich Schema dazu sagen. Verena Kast nennt es Themen (2010). Kommt es laut Kast bei Assoziationen zu psychischer Auffälligkeit im Verhalten oder Erleben, so unterliegt dem ein Thema. Es wird also das gesamte Unbewusste angesprochen mit allen Verknüpfungen, d.h. alle innerpsychischen Anteile, stereotyp ablaufende Abwehrstrategien, kurz die ganze Lebensgeschichte. Themen also.
Ebenso prägen Themen natürlich auch mein Leben. Ich wollte einst meine Herkunft leugnen. Das fing mit dem Erlernen der hochdeutschen Sprache an, über das Ergreifen einer komplett anderen beruflichen Laufbahn, bis hin zum Leugnen meiner beiden Erzeuger. Jetzt lernte ich allerdings, dass ich bei den Eltern jedes Mal Unterschlupf fand, als ich beruflich scheiterte. Das Scheitern betraf den finanziellen Aspekt. Das Thema dahinter war Ablösung/Autonomie oder noch einfacher Selbstwerdung. Das Scheitern löste in mir tiefes Leid aus. Ich erwartete gerade im Scheitern Hilfe von außen, was meiner erlernten Hilflosigkeit entsprach. Das führte allerdings auch zu weiteren Problemen. Wenn ich keine Hilfe bekam, wurde ich unglaublich wütend. Diese Wut ist es letzten Endes, eine Form von Aggression, eine Energie ein Problem anzugehen, etwas zu ändern. Der Blick in die Vergangenheit hilft meist, mir bewusst zu werden, wie es dazu gekommen ist. Der Blick in die Zukunft gibt eine Orientierung, wo es hingehen soll. Doch das Handeln findet immer im Hier und Jetzt statt.
Wie entsteht nun ein Komplex laut Jung? Es handelt sich um einen Zusammenprall einer Anpassungsanforderung der Umwelt und der Beschaffenheit eines Individuums, welches dieser Anpassung nicht nachkommen kann. Nach dem Entwicklungspsychologen Stern (1992) entsteht bei einem Säugling ein zusammenhängendes Kern-Selbst, welches die Grundlage für das Identitätserleben ist, durch Interaktionen. Diese nach Stern generalisierten Interaktionsrepräsentationen, sind wie es im Wort schon hervorgeht, Repräsentationen im episodischen Gedächtnis, d.h. alle positiven wie negativen Erfahrungen eines Kindes. Das könnte z.B. die verweigerte Brust sein, sowie auch das Nichtantworten auf einen Hilferuf. Diese Erfahrungen, im Gedächtnis gesammelt, stellen Ereignisse dar mit ihren Verlauf, was wiederum Erwartungen impliziert, welche enttäuscht werden können. Kommt es nun durch eine Assoziationskette zu einem Ereignis, welches Komponenten des damaligen Ereignisses oder der damaligen Ereignisse beinhaltet, so werden dadurch Empfindungsmuster, sowie emotionale und kognitive Muster reaktiviert.
Die Suche nach der Urfassung dieser generalisierten Interaktionsrepräsentation, bzw. des Komplexes, oder des Themas stellt sich als schwierig heraus, da wir erstens nicht genau wissen, wann es entstand und zweitens es höchstwahrscheinlich im präverbalen Stadium stattfand, welches es zusätzlich erschwert. Der Weg läuft also anders, über eine Schlüsselsituation, welche in typischen Beziehungskonflikten immer wieder erscheinen. Diese zeigen sich im Alltag, im Traum, in Imaginationen. Was sich da zeigt, hat auch einen narrativen Charakter, denn in Narrationen geben wir uns selbst preis. Dies tun wir auch gegenüber anderen Menschen, schon allein um unsere Identität zu manifestieren. Schaue ich also auf die Narration, schaue ich auch auf meine Komplexe, Themen und Schemata.
Assoziative Verbindungen prägen also Ausschnitte meines Lebens. Ebenso prägen Themen mein Leben. Und schließlich prägen Narrationen mein Leben. Ich schreibe gerne, viel und schon sehr lange. Daher bin ich mir bewusst, welche Wirkung Sprache auf mich hat. Sie ordnet, sie verlangsamt, sie beruhigt. Unser Leben ist geprägt durch unsere Narrative. Wenn es mehr Leiden als Leben gibt, dann tragen unsere Narrative großteils dazu bei. Diese Narrative können durch unsere Kindheit, durch Gewalt, Missbrauch, Vernachlässigung und dergleichen entstanden sein oder/und durch kulturell-soziale-politische Kräfte wie z.B. Sexismus, Armut, Rassismus. Beides wären Ereignisse, welche uns erst zuteil wurden. Wir können nicht die Ereignisse, wie sie nun mal sind, ändern, jedoch können wir unsere Sichtweise dazu ändern und diese in unsere Lebensgeschichte integrieren. Wir können leider auch nicht die Narrative ändern, welche andere Menschen über uns haben, doch können wir die Narrative ändern, welche wir über uns haben zugunsten einer kongruenten Identität.
Da ich narrative Therapie als sehr wirksam erlebt habe, besorgte ich mir ein Buch dazu von David Denborough. Zu Beginn der narrativen Therapie nach Denborough (2014) gibt es eine Übung die sich “Baum malen” nennt. Die Wurzeln symbolisieren, wo ich herkomme (Sprache, Kultur, Menschen die mir etwas beibrachten). Die Erde sind meine täglichen Aktivitäten. Der Baumstamm steht für, warum wir diese alltäglichen Dinge tun, die Werte dahinter. Er beinhaltet auch meine Fähigkeiten und Fertigkeiten. Die Äste stehen für Hoffnungen, Träume und Wünsche für mich und die Welt. Die Blätter sind die Menschen, welche wichtig waren in meinem Leben. Die Früchte stehen für das Geschenk, was ich von anderen Menschen lernen durfte. Die Samen des Baumes stehen für das Geschenk, was ich der Welt geben möchte. Der Komposthaufen neben dem Baum steht für die Menschen, welche mich missbraucht / verletzt haben. Hier können sie nun nichts mehr anrichten.
Exploration: Baum
Was du dafür brauchst, ist ein leeres Blatt Papier und einen Stift. Male einen Baum mit Wurzeln, Erde, Baumstamm, Äste, Blätter, Früchte, Samen und Komposthaufen und beschrifte diese Teile dann entsprechend. Nachdem du fertig bist, halte kurz inne, atme und beachte dich selbst. Wie fühlst du dich jetzt? Kannst du dieses Gefühl einfach nur da sein lassen, wertfrei und liebevoll?
Schritt 1: Probleme als die Probleme ansehen und aussprechen
Eine wichtige Annahme der narrativen Therapie ist, dass wir nicht unsere Probleme sind, sondern dass wir Probleme haben. Diese Probleme sind manchmal die Narrative, welche wir kreieren und im schlimmsten Fall dann auch noch von anderen Menschen bestätigt bekommen. Der erste Schritt besteht somit darin, das Problem als das Problem zu sehen, d.h. von einer Internalisierung zu einer Externalisierung zu kommen. Externalisierung beinhaltet raus damit. Es bedeutet, es auszusprechen. Es bedeutet Eigenverantwortung, d.h. das Problem wird nicht externalisiert, um es auf einen anderen Menschen zu projizieren, sondern um mich damit auseinanderzusetzen. Anstatt “Ich lebe nicht” zu sagen/schreiben, könnte ich auch “Unter gewissen Umständen neige ich dazu, mich sehr schlecht zu fühlen” sagen/schreiben.
Schritt 2: Dem Problem einen Namen geben und erforschen
Dann wäre es hilfreich dem externalisierten Problem einen Namen zu geben. Anstatt "Ich bin süchtig” zu sagen/schreiben, könnte ich folgendes sagen: “Wenn ich zu wenig mit mir anzufangen habe, oder zu sehr gestresst bin, neige ich dazu meiner Sucht nachzugehen”. Nachdem ich das Problem benannt habe, kann ich es erforschen. Dazu kann ich mir Fragen stellen und natürlich ehrlich antworten, denn schließlich will ich mir ja helfen und mich nicht weiter täuschen. Wann kam diese Sucht zum ersten Mal? Wann kommt sie meistens und wann eher weniger? Hat die Sucht auch Verbündete? Wenn ich das Problem erforsche, könnte ich im Anschluss die Effekte des Problems näher erforschen. Wie wirkt sich mein Problem, die Sucht, auf Arbeit/Studium/Lernen, Beziehungen/Liebe/Fürsorge und Selbstentwicklung/Träume aus? Im Anschluss evaluiere ich diese Effekte. Sind die Effekte eher positiv oder negativ? Möchte ich aufgrund der höchstwahrscheinlich negativen Effekte meine Beziehung zu dem Problem ändern?
Schritt 3: Die Beziehung zum Problem gestalten
Der kommende Teil ist ein schwieriger, aber umso lohnenswerter, wenn man diesen Schritt beschreitet. Es ist die Beziehungsgestaltung zum Problem mit möglichen Fragen: Warum möchte ich meine Beziehung zum Problem ändern? Wo steht es meiner Selbstentwicklung im Weg? Was wäre anders in meinem Leben, wenn diese Problem nicht existieren würde? Ich möchte mich bemächtigen und das Problem entmächtigen. Im Anschluss schreibe ich einen Brief. Dieser Brief ist an das Problem gerichtet. Ich informiere das Problem, das ich es kenne und auch die darunter liegenden Mechanismen. Ich erkenne seine Existenz an und teile mit, das wichtige Änderungen kommen werden. Das ist ein sehr wichtiger Schritt, denn man gerne ganz schnell abtun möchte. In ihm liegen allerdings große Effekte, nämlich Klarheit und Beruhigung.
Schritt 4: Sich mit dem Gegenpol des Problems vertraut machen
Nachdem ich mich für einige Zeit mit dem Problem befasst habe, schaue ich auf den Gegenpol und erforsche diesen. Wann gab es Zeiten/Orte/Situationen/Menschen, wo das Problem weniger stark war? Was passierte da? Was/wer war anwesend? Welche vorausgehenden Handlungen führten dazu? Und schließlich besteht der Fokus darin, in die eigene Kraft zu kommen. Ich erinnere mich an mein Mantra: Komme zur Ruhe, entdecke deine Kraft, den Quell deiner Liebe. Welche Fähigkeiten/Fertigkeiten halfen mir in schweren Zeiten, als das Problem da war, durchzuhalten? Die Verstärkung der Aufmerksamkeit auf diese Fähigkeiten und Fertigkeiten erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass diese verfügbarer werden.
Schritt 5: Sich anderen Menschen mitteilen
Nachdem die beschriebenen Schritte zur Externalisierung gemacht wurden, suchen wir uns Zuhörer für unsere Geschichte. Diese Zuhörer sollten uns wohlwollend gegenüber stehen sowie uns aufrecht dafür anerkennen.
Gleichzeitig hören wir bei anderen zu und sehen und verstehen, wie deren Herangehensweise etwa ein Lernmoment auch für uns sein kann. Dieses Gegenüber kann real existieren oder imaginiert sein. Ich könnte mir folgende Fragen stellen, sobald ich die Geschichte meines Gegenübers höre:
- Wie hilft mir diese Geschichte, eine neue Perspektive auf mein Leben zu gewinnen?
- Wie hilft mir diese Geschichte, mich um vernachlässigte Teile meines eigenen Selbst zu kümmern?
- Wie hilft mir diese Geschichte, Bedeutung in meiner eigenen zu erkennen?
- Wie hilft mir diese Geschichte, Schritte dorthin zu machen, wo ich no nie war und Gedanken außerhalb der Box zu denken?
Schritt 6: Die Landkarte der Lebensreise zeichnen
Zum Abschluss gibt es die folgende Zeichenübung, “Landkarte der Lebensreise”. Dazu wird ein Fluß über ein DIN A4 Blatt gezeichnet. Der erste Teil besteht darin zu beschreiben, wo ich herkomme (Orte, Vorfahren, Kultur, Sprache, Spiritualität). Wer hat mich am Anfang meiner Reise unterstützt? Welche Geschenke habe ich mitbekommen? Mein unterstützendes soziales Netzwerk kommt in die Mitte des Flußes als Kreis. Dazu gehören Menschen, Tiere, Figuren. Um den Kreis herum befinden sich Werte, Glaubenssätze und Prinzipien, die mich begleitet haben. Entlang des Flußes sind Lieblingsplätze, welche mich verändert haben. Zudem befinden sich auch Meilensteine meiner Entwicklung entlang des Flußes. Dann gibt es noch Hürden, welche ich gemeistert habe, z.B. als Brücke. Am oberen Rand der Seite befindet sich mein Überlebenskit, welcher alles enthält, was mich hat weitermachen lassen. Der zweite Teil besteht darin zu beschreiben, wo ich hingehe. Er kennzeichnet meine Hoffnungen, Träume und Wünsche am Horizont, Orte, welche ich sehen möchte, Dinge, welche ich erreichen möchte (für mich, für die Gemeinschaft), Geschenke, welche ich zurückgeben möchte, und eventuell Hürden, welche noch zu überkommen sind. Der dritte Teil besteht darin, auf die Reise von der Vogelperspektive zu schauen und positive Erinnerungen, welche ich mit auf die Reise nehme, zu integrieren, z.B. als Wolken. Welchen Namen trägt meine Reise? Was ist die Message, die ich lernte, die ich gerne weitergeben möchte?
Exploration: Vorschau
Nimm dir kurz ein paar Minuten Zeit. Setze dich in eine bequeme Position und lese dir folgende Frage durch. Wenn du magst, mache dir dazu Notizen. Wenn eine Person dein Leben würdigt, wie würde diese Würdigung lauten? Was würden Nachkommen auf die Frage antworten, was dir im Leben wichtig war? Egal wie lange du noch lebst, was willst du unbedingt noch verwirklichen? Gibt es eventuell einen Zusammenhang zwischen den ersten beiden Explorationen und der letzten?
Nun wünsche ich dir noch einen schönen Guten Morgen, bzw. eine angenehme Nacht, oder irgendetwas dazwischen. Vor allem viel Ruhe und Vergnügen mit den Explorationen, sowie den Fragen der narrativen Therapie.
Literatur:
- Denborough, David (2014). Retelling the stories of our lives. New York: W.W. Norton
- Kast, Verena (2010). Konflikte anders sehen. Die eigenen Lebensthemen entdecken. Freiburg: Herder
- Stern, Daniel N. (1992). Die Lebenserfahrung des Säuglings. Stuttgart: Klett Cotta
Bilder:
- Foto von Brett Jordan (Unsplash)