Ein neuer Tag, ein freier Tag. Ach, wie schön es ist die morgendliche Stille langsam mitzuerleben. Bald mag der Sonnenaufgang kommen. Doch im Moment herrscht noch die Stille. Sitzend, in Kontemplation versunken, denke ich nach. Es ist schön in der ADHS Gruppe. So frage ich mich: Warum werden Erwachsene mit ADHS oft unterschätzt? Wie können sie ihren Alltag leichter meistern? Das sind so zwei Fragen, die durch meinen Kopf kreisen. Der Tatsache geschuldet, da ich eine Gruppe in einer Klinik dazu leite. Anfangs vielleicht herausfordernd, jetzt zutiefst erfüllend. Gehen wir da mal rein.
ADHS, mehr als “nur unkonzentriert”
Wenn Menschen über ADHS sprechen, hören wir häufig Sätze wie den folgenden: „Kannst du dich nicht einfach besser konzentrieren?“ Doch ADHS bei Erwachsenen ist viel komplexer. Es geht nicht nur um Aufmerksamkeitsprobleme. Es geht um starke Gefühle, schnelle emotionale Reaktionen, Schwierigkeiten mit Struktur und Zeit. Zudem Impulsivität, die das Leben oft anstrengend macht. Und schließlich ein Gehirn, das intensiver reagiert als viele andere. Viele Erwachsene spüren, dass ADHS sich anfühlen kann wie ein innerer Vulkan, und niemand sieht ihn von außen. Das Brodeln des Vulkans ist vielleicht nicht immer gleich er-sichtlich, doch sobald das Magma sich an die Oberfläche drängt, was sich durch die eben genannte Impulsivität, die schwankende Emotionalität, oder die kognitive Multidimensionalität bezeugt, dann ist es sichtlich, ersichtlich und spürbar.
Emotionale Dysregulation
Diese emotionale Dysregulation ist wie eine unsichtbare Stärke und Herausforderung sogleich. Warum erleben Menschen mit ADHS Gefühle eigentlich stärker? Viele Erwachsene mit ADHS haben keine lange Zündschnur. Situationen, die andere kaum belasten, können sie emotional treffen. Das liegt nicht an Schwäche, sondern an neurobiologischen Mechanismen. Es hat mit Stresshormonen zu tun. Diese bauen sich langsamer ab. Gefühle bleiben somit länger im System. Dadurch werden emotionale Reize auch intensiver wahrgenommen. So kann eine typische Achterbahn entstehen. Morgens ist man noch zuversichtlich, mittags überreizt und abends ausgelaugt. Diese Stimmungsschwankungen sind Stunden- statt Wochenphänomene und das ist ein wichtiger Unterschied zu anderen psychischen Störungsbildern. Stärke? Wirklich, warum nicht nur Herausforderung? Weil genau dieselben Mechanismen, die Gefühle intensiver und länger im System halten, auch Tiefe, Feinfühligkeit und Resonanzfähigkeit ermöglichen. Genau deswegen.
Wenn starker Stress zur Kernschmelze führt
Viele Erwachsene mit ADHS kennen emotionale Überflutungsmomente. Plötzlich geht nichts mehr. Man fühlt sich blockiert oder gelähmt. Es wirkt wie „zu viel auf einmal“. Das ist kein Drama, sondern eine biologische Stressreaktion. Wichtig ist nicht, sie zu verurteilen, sondern zu lernen, sie früh zu erkennen. Neurobiologisch kippt das System in diesen Momenten aus der Regulation. Stresshormone sind hoch, der präfrontale Cortex tritt in den Hintergrund. Denken und Abwägen werden schwieriger, der Körper schaltet auf Schutz. Bei ADHS geschieht dieser Kipppunkt oft schneller, weil Reize intensiver verarbeitet und Stress langsamer abgebaut wird. Das fühlt sich wie persönliches Versagen an, ist aber eine biologische Überlastungsreaktion. Wichtig ist der Moment davor. Unruhe, flacher Atem, Reizbarkeit oder innere Enge sind frühe Warnzeichen. Wer sie wahrnimmt, kann gegensteuern. Regulation beginnt nicht im Kopf, sondern im Körper: langsamer Atem, Bewegung, Bodenkontakt, kurze Pausen. Überflutung ist kein Defekt, sie zeigt, dass Grenzen überschritten wurden.
Warum ADHS oft zu Angst oder Vermeidung führt
Bleiben diese Überlastungsreaktionen unverstanden oder werden sie als persönliches Scheitern interpretiert, beginnt das System, Schutzstrategien zu entwickeln. Eine davon ist Vermeidung. Wenn Gefühle so stark sind, entsteht ein natürlicher Mechanismus: Vermeide, was überfordert. Das kann jedoch langfristig das Gegenteilige bewirken, nämlich die Ängste verstärken und somit auch Zwangsrituale begünstigen. Schließlich wird auch das Selbstwertgefühl beeinträchtigt. Doch mit professioneller Begleitung und passenden Strategien kann man lernen, stärker in die Selbstwirksamkeit zu kommen. Wenn Angst, Vermeidung und emotionale Intensität zusammenkommen, entsteht häufig ein weiteres Missverständnis, nämlich die Einordnung in ein anderes Störungsbild.
ADHS und Borderline – warum sie verwechselt werden (und wie man unterscheiden kann)
Ja, warum ist das so. Warum die Verwechslung. Das hat sehr oft mit den starken Emotionen und den schnellen Stimmungsschwankungen zu. Zudem kommt die Impulsivität hinzu. Daher wird ADHS bei Erwachsenen manchmal mit Borderline verwechselt. Ein wichtiger Unterschied ist jedoch der folgende. Bei ADHS fehlt meist das typische Beziehungsmuster, das für Borderline charakteristisch ist. Die emotionale Instabilität bei ADHS ist eher neurobiologisch bedingt als bindungszentriert. Diese Differenzierung hilft vielen Betroffenen, wieder mehr Klarheit über sich selbst zu bekommen. Kommen wir wieder zurück zu ADHS, zum Alltag bei Menschen mit ADHS.
Strukturprobleme im Alltag
Zeitplanung ist für Menschen mit ADHS oft nicht intuitiv. Erwachsene mit ADHS haben häufig Schwierigkeiten mit der Priorisierung und damit kommen sie sehr schwer zu realistischen Zeitabschätzungen. Das mentale Sortieren ist erschwert, was den Weg vom Plan zur Durchführung noch komplizierter macht, als er schon ist. Das liegt unter anderem daran, dass das Gehirn Dopamin anders verarbeitet, genau jener Stoff, der nötig ist, um Aufgaben zu starten, sie auch durchzuhalten und sie abzuschließen. Alltagsprobleme, die viele Betroffene kennen, vielleicht du auch. Hast du Probleme dir Termine zu merken? Wie ist es mit Projekten? Projekte starten euphorisch und bleiben dann unfertig. Deadlines können in den Panikmodus führen. Es heißt ja, wer Ordnung hält ist zu faul zum Suchen. Doch bei Menschen mit ADHS halten Ordnungssysteme nur kurz. Nicht, weil der Mensch chaotisch ist, sondern weil sein Gehirn anders arbeitet. Ich sage, Sehen, Verstehen, Erfahren, Bewahren. Verstehen schafft hier oft mehr Entlastung als jeder neue Planer oder jedes weitere Ordnungssystem. Dafür ist Sehen zu allererst notwendig.
Impulsivität oder, wenn das innere Bremssystem schneller ist als die Vernunft
Impulsivität bei ADHS kann bedeuten, etwas schnell zu sagen, bevor man nachdenkt, oder Entscheidungen reflexartig zu treffen. Manchmal ist es auch so, dass Handlungen aus der Stimmung heraus zu gewählt werden. Betroffene denken oft später: „Warum habe ich das gemacht?“ Diese Impulse sind nicht Dummheit. Sie sind das Ergebnis eines schwächer ausgeprägten inhibitorischen Systems im Gehirn. Doch, Impulsivität lässt sich trainieren und genau hier beginnt der Handlungsspielraum.
Selbsthilfe bei ADHS: 5 Strategien, die wirklich helfen
- Gefühle früh erkennen und nicht erst im Sturm
Täglich einmal kurz reflektieren: Wie hoch ist mein Stresslevel (1–10)? Was hat es beeinflusst? Was hätte ich gebraucht? Schon wenige Minuten täglich erhöhen die emotionale Selbstwirksamkeit. - Atem und Pause
Wenn du merkst, dass es kippt: 4 Sekunden einatmen, 8 Sekunden ausatmen, Atempause länger werden lassen, wahrnehmen. Zwei Minuten reichen, um die Stressreaktion messbar zu senken. - Die „5-Sekunden-Regel“ für Impulsmanagement
Vor Entscheidungen 5 Sekunden atmen und kurz wahrnehmen: „Will ich das gerade wirklich oder ist das ein Momentimpuls?“ Das allein kann Fehlkäufe reduzieren, sowie Kurzschlussreaktionen und Konflikte im Alltag. - Chunking oder große Aufgaben klein machen
Statt die Wohnung ganz aufzuräumen besser das Ganze chunken, also vielleicht den Müll rausbringen, nur die Küche wischen, oder nur Kleidung sortieren. Das Gehirn bekommt so schnelle Erfolgserlebnisse und Dopamin steigt. - Struktur sichtbar machen und nicht im Kopf aufbewahren
Viele Erwachsene mit ADHS profitieren von analogen Kalendern, Whiteboards, visuellen To-Do-Listen, Smartphone-Timer. Wichtig ist nicht welches Tool, sondern, dass Struktur außerhalb des Kopfes existiert.
Wenn der innere Ton über Regulation entscheidet
Viele Erwachsene mit ADHS kämpfen nicht nur mit Reizen, Zeit oder Impulsivität, sondern mit einem inneren Dialog, der leise und dauerhaft verletzend ist. Gedanken wie „Warum kriege ich das nicht hin?“, „Andere schaffen das doch auch“ oder „Ich müsste mich einfach mehr zusammenreißen“ entstehen oft früh und wiederholen sich über Jahre. Sie wirken wie ein zusätzlicher Stressor im Nervensystem. Dieser innere Angriff ist kein Zufall. Wer mit einem sensibleren, schneller reagierenden Nervensystem lebt, erlebt häufiger Überforderung, Missverständnisse und Kritik, von außen wie von innen. Viele Betroffene versuchen, dem mit Härte zu begegnen, d.h. mehr Druck, mehr Kontrolle, mehr Selbstkritik. Neurobiologisch jedoch verschärft genau das die Problematik. Selbstangriff erhöht Stress, Stress verschlechtert Regulation. Ein Kreislauf entsteht. An diesem Punkt wird Selbstmitgefühl nicht zu einer netten Idee, sondern zu einem zentralen Wirkfaktor. Selbstmitgefühl bedeutet nicht, Schwierigkeiten zu verharmlosen oder Ansprüche aufzugeben. Es bedeutet, das eigene Nervensystem ernst zu nehmen, statt es permanent zu bekämpfen. Es bedeutet, Herausforderungen nicht als Beweis persönlicher Unzulänglichkeit zu deuten, sondern als Hinweise auf besondere Voraussetzungen. Ein anderes Nervensystem braucht andere Strategien und einen anderen inneren Ton. Wer lernt, sich in Momenten des Scheiterns oder der Überforderung innerlich zuzuwenden, statt sich weiter unter Druck zu setzen, verändert die Ausgangslage grundlegend. Regulation wird wahrscheinlicher, Handlungsspielraum größer, Selbstwirksamkeit wieder spürbar. In diesem Sinne lässt sich auch die Gewaltfreie Kommunikation nach Marshall B. Rosenberg nach innen wenden. Statt sich selbst zu bewerten oder abzuwerten, wird gelernt, innezuhalten, wahrzunehmen, was gerade ist, welches Bedürfnis dahinterliegt und was jetzt unterstützen könnte. Dieser innere Perspektivwechsel, weg vom Urteil, hin zum Bedürfnis, wirkt regulierend und stärkt langfristig die Beziehung zu sich selbst.
Fazit: ADHS ist so viel mehr und das darf sichtbar werden
ADHS bei Erwachsenen ist ein intensives emotionales Erleben und ein anderes Zeit- und Organisationsgefühl. Ein schnelleres Nervensystem geht auch einher mit einer impulsiveren Energie. Das hat aber auch viel Potenzial, wenn du verstehst, wie es funktioniert. Mit Wissen, Strategien und Unterstützung wird aus Überforderung Handlungsspielraum, Selbstwirksamkeit und Stärke. ADHS ist nicht nur eine Herausforderung. Es ist eine andere Art, in der Welt zu sein und sie zu erleben. Und wenn wir das verstehen, entsteht nicht nur Kontrolle. Sondern Würde.
Bilder:
- Foto von srihari kapu auf Unsplash

