„Ich möchte sichtbar sein, aber irgendwie schaffe ich das nicht.“ Mit diesen Worten trat vor Kurzem jemand an mich heran – voller Sehnsucht und voller Angst zugleich. Der Wunsch nach Sichtbarkeit steht für das Verlangen nach Verbindung: mit sich selbst, mit anderen, mit dem eigenen Leben und der Welt. Doch vielfach blockiert Angst – Angst, bewertet oder ausgegrenzt zu werden; Scham – „was denken die anderen?“; Glaubenssätze – „Ich darf mich nicht zeigen“ oder „Ich bin nicht gut genug“.
In diesem Artikel begleite ich dich durch drei Ebenen:
- Warum Sichtbarkeit so schwerfällt,
- Wie wir damit umgehen können – und
- Wie wir Sichtbarkeit körperlich, verkörpert ermöglichen.
Am Ende sind drei Fragen zur praktischen Arbeit, wenn du Lust dazu hast.
Warum fällt es uns so schwer, sichtbar zu sein?
Sichtbar sein heißt: gesehen werden mit dem, was wir sind – mit unseren Gedanken, Gefühlen, Fähigkeiten, unserem Körper, unserer Haltung. Das macht uns angreifbar – und unser Nervensystem registriert: Vielleicht bin ich nicht sicher. ACHTUNG ACHTUNG Spoiler. Das Gefühl von Sicherheit hat viel mit dem Körper zu tun = Polyvagal Theorie. Die Polyvagal-Theorie beschreibt, wie unser Nervensystem auf Sicherheit oder Bedrohung reagiert – und damit auch, ob wir uns zeigen können oder nicht.
Wir fürchten ganz tief, dass unser Sein nicht akzeptiert wird, dass wir negativ beurteilt werden. Wer sich nicht zeigt, bekommt gewissermaßen kein Nein – aber auch kein Ja. Psychologisch betrachtet nennen wir das Bewertungs- und Ablehnungsangst.
Manche Menschen sind allerdings auch chronische Warter. Ich zähle mich manchmal auch dazu. Ich warte und warte und warte, damit es besser wird. Doch was, ganz ehrlich, soll denn besser werden? Ich?! Um mich dann final zu zeigen. Wann soll denn dieser Tag erscheinen. Ich für mich weiß, das hat mit dem Gedanken zu tun, nicht gut genug zu sein und der ist schon ziemlich alt. Er hat mit meiner Geschichte, mit meiner Entwicklung zu tun. Vielleicht ist das bei dir auch so. Denke bitte mal darüber nach.
Früher dachte ich, Fehler machen nur die Dummen. Heute weiß ich: Fehler machen die Schlauen – sie lernen daraus. Sich diese nicht eingestehen zu wollen, oder noch schlimmer, gar keine machen zu wollen, grenzt an Perfektionismus. Ganz ehrlich, Menschen sind imperfekt. Perfektionismus ist eine Krücke.
Manchmal treffe ich bewusst keine Menschen, oder suche bewusst keine Situationen auf. Warum? Weil ich nicht alle Implikationen im Kopf habe. Geht das? Natürlich nicht, ist doch ganz klar. Was hier hervorsticht, ist eindeutig ein Kontrollverlust, denn sichtbar sein heißt auch, nicht zu wissen, wie andere reagieren. Aber hey, das ist das Leben. Punkt. So war es schon immer. So wird es immer sein. Wir können das Außen nicht kontrollieren. Wir können dem Außen vertrauen. Dafür braucht es wiederum Sicherheit. Und die, wie eben schon gesagt, ist im Körper. Spoiler: Polyvagal Theorie.
Aus meiner Vergangenheit ist mir allerdings auch bewusst, manchmal ist es differenzierter, soll heißen, ich weiß nicht so recht, wie, wo, mit welchem Kanal ich sichtbar werden will. Ich brauchte zum Beispiel ewig, diese Webseite zu Schaffen. Jetzt ist sie da. Wow. Und ich mit ihr. Kanalunsicherheit führt auch zu Unsichtbarkeit.
Biologisch betrachtet bedeutet Sichtbarkeit auch Vulnerabilität. Ich exponiere mich. Genau dadurch betrete ich einen Raum, einen vulnerablen Raum, in dem ich mich zeigen darf und andere Lebewesen dürfen reagieren. Lebewesen??? Ja, z.B. Hunde oder Katzen oder Pferde oder Vögel. Ehrlich. Ich denke ich habe keinen Vogel. Denn diese Tiere sprechen mit dem Körper, über den Körper. Unser Gehirn hat nun mal einen eingebauten Gefahrendetektor. Und auch das gehört zum Leben dazu. Und das ist auch unglaublich gut so. Schlimm wird es, wenn dieser Detektor uns beherrscht.
Wenn wir all das verstehen, wird es ziemlich klar. Sichtbarkeit ist keine rein mentale Frage, sondern eine komplexe Mischung aus Gefühl, Körper, Nervensystem und Strategie.
Wie können wir damit umgehen?
Angst wegmachen? Nein danke. Falsches Rezept. Schmeckt nicht gut. Sie zu sehen und zu verstehen, sie dann zu erfahren und eine bessere Alternative zu bewahren. Das ist die Reise. Hast du Lust auf diese Reise?
Wie wäre es als Erstes mit Sehen und Annehmen? Angst ist kein Zeichen von Versagen, sondern ein Signal: „Hier könnte etwas wichtig sein.“
Im Kampfsporttraining machten wir oft Schritte und dann froren wir die Schritte ein. Manchmal war der Schritt zu groß. Zu groß für das Leben, zu groß für mich. Vielleicht tun es kleinere Schritte, denn kleiner ist auch feiner. Kleinere Schritte gaben mir zwei Dinge gleichzeitig: Stabilität und Mobilität = Agilität. Möchtest du agil sein? Das war auch eine rhetorische Frage. ACHTUNG ACHTUNG Spoiler. Die Wahrnehmung von klein und langsam ist Feldenkrais. Mache es klein und mache es langsam und dann mache es graziös. Graziös??? Ja genau das. In dieser ästhetischen Bewegung, lerne dich zu feiern. Feiere, wenn du einen kleinen sichtbaren Schritt gemacht hast, ein Post, ein Video, ein Raum, in dem du dich gezeigt hast.
Entscheide bewusst: Wie will ich sichtbar sein? In welchem Format? Mit welchem Inhalt? Welcher Kanal passt zu mir? Bitte konkretisiere es. Denn wenn du nicht weiß, wofür du stehst, wird Sichtbarkeit unklar, unstabil und erschreckend. Erschreckend für dich.
Du meinst du schaffst das nicht alleine. Kein Problem. Rufe mich an. Ehrlich. Ich kenne mich da aus. Nicht aus Büchern, sondern aus Erfahrung. Ok, Bücher habe ich auch gelesen. Erschaffe dir ein unterstützendes Netzwerk. Wer Menschen um sich hat, die ermutigen, statt herunterzuziehen, hat mehr Reserven. Auch ein sicherer Raum, in dem erste Sichtbarkeiten geübt werden dürfen, ist hilfreich. In diesem sichereren Raum, übe gerne mit liebevollen Menschen.
Last but not least. Aktiviere deine innere Stärke, z.B. den Gorilla, in dem du deinen Brustkorb beklopfst. Das nenne ich eine Ressource, die deinen Selbstwert stärkt. Probiere es gerne mal aus. Trommele und lasse Sätze wie, “ich bin nicht genug”, oder “ich bin nicht gut genug”, oder “ich bin nicht gut”, hinter dir. Der Gorilla in dir steht dir bei. Das ist übrigens schon Embodiment.
Sichtbarkeit verkörpern – mit Körper, Bewegung und Präsenz
Hier kommt dein, wichtiger, körperlicher Teil: Sichtbar sein ist nicht nur Kopf-Sache. Es braucht Verkörperung. Verkörperte Sicherheit ist die Grundlage. Und das sage ich nicht nur, weil ich als Körperpsychotherapeut arbeite. Ok, vielleicht ein klein wenig. Das bewusste Spüren des Bodens und der Körperhaltung signalisiert dir Sicherheit im Nervensystem. Wenn wir den Boden spüren, wenn wir in unserem Körper verankert sind, dann haben wir eine Basis, von der aus wir uns zeigen können. Nicht als wackeliger Sauerstoffballon, sondern als geerdete Präsenz.
Kennst du Somatische Marker und Embodiment? Nein, dann wird es jetzt aber Zeit…grins. Nach Damasio sind somatische Marker körperliche Empfindungen, die uns auf Situationen hinweisen: „Hier ist Gefahr“, „hier geht’s gut“. Wenn du sagst „ich versinke gleich im Boden“, dann ist das ein somatischer Marker. Der Körper zeigt: „Ich kann mich nicht zeigen, ich ziehe mich zurück.“
Dein Auftrag wäre dann: Erkenne, wo spürst du das? Was passiert im Atem, im Bauch, im Brustkorb? Und: Gibt es auch Marker für „Ich traue mich sichtbar zu sein“ – vielleicht ein Heben des Brustkorbs, ein Ausatmen, eine Öffnung. Bewegungs- oder Atemimpulse können helfen, diese Marker bewusst zu erleben und zu nutzen.
Und die Bewegung kann auch als sichtbare Haltung gelten. Nutze das. Sichtbarkeit kann in Bewegung geübt werden: „Gehe in den Raum, nimm 3 Schritte nach vorne, richte dich auf, atme bewusst, halte den Blick Richtung Raum“ – und dann frage: Wie fühlt sich „sichtbar sein“ im Körper an? WICHTIG: Mache das nicht gesteuert, nicht im Perfektionsmodus – sondern explorativ: Wie ist das, wenn ich mich zeige mit meiner Bewegung? Wie fühlt es sich an, wieder zurückzugehen? Welche Qualitäten sind anders?
Das ist Verkörperung des „Ich zeige mich“. Sichtbarkeit heißt: Ich stehe da – mit meinem Körper – ich bringe meine Stimme, meine Bewegung, meine Ausdruckskraft ins Spiel. Du darfst dich selbst begleiten, körperlich zu „landen“ in dieser Sichtbarkeit: Atmung, Haltung, Bewegung, Blickkontakt, Raum einnehmen. Ich zeige mich mit meinem ganzen Sein. Nicht nur: ich poste was oder rede was – sondern: ich bin präsent.
Wenn du also sagst, „Ich versinke gleich im Boden“ – dann kannst du auch metaphorisch arbeiten: Ich verankere mich im Boden, ich spüre meine Füße, ich hebe den Blick, ich trage mich durch meinen Körper, ich öffne mich sichtbar. Und dann: Ich wage etwas, ich zeige etwas, ich halte meine Präsenz.
Das ist Integration von Kopf, Herz, Körper. Sichtbarkeit darf nicht nur im Kopf bleiben („ich will sichtbarer werden“) – sondern: im Körper erfahrbar werden. Wenn wir das Nervensystem regulieren (Polyvagal Theorie), den Körper einladen, Sicherheit zu spüren, und dann die Sichtbarkeitsübung wagen, entsteht etwas Neues: Ich bin nicht nur im Kopf sichtbar – sondern im Sein. Und das macht Resonanz, Verbindung mit anderen möglich.
Drei Fragen zum Abschluss
Zum Abschluss: drei Fragen, und ich schlage vor, sie so in dein Bewegungssetting zu integrieren:
- Was hält dich davon ab, dich sichtbar zu machen?
Frage sowohl auf der gedanklichen Ebene (z. B. „Ich darf mich nicht zeigen“) als auch auf der körperlichen („Was spüre ich im Körper, wenn ich an Sichtbarkeit denke?“). - Wo warst du schon mal sichtbar und hast es vielleicht vergessen?
Mache eine Bewegung oder gehe in den Körperraum: Wo warst du präsent? Vielleicht im Tanz, in einer Probe, in einem Moment mit Freunden – und spüre: Wie war das? Welche Körperhaltung? Welche Atmung? - Was brauchst du jetzt gerade, um sichtbarer zu werden?
Was brauchst du in deinem Körper? Welche Haltung? Welche Bewegung? Welche Unterstützung? Welche kleinen Schritte? Welche verkörperte Übung? Welche Umgebung?
Fazit
Sichtbarkeit ist keine Bürde, sondern eine Einladung: zur Verbindung mit dir selbst, mit anderen, mit dem Leben. Die Angst davor ist verständlich – sie kommt aus dem Nervensystem, aus unseren Bewertungs- und Schutzmechanismen. Doch sie muss nicht das Ende sein. Mit Klarheit, kleinen Schritten, Unterstützung und vor allem mit Körperlichkeit kann Sichtbarkeit lebendig werden – nicht als Aktion im Kopf, sondern als gelebte Präsenz im Körper. Ich zeige mich – mit Atem, mit Bewegung, mit Haltung – und werde so gesehen, nicht weil ich perfekt bin, sondern weil ich wirklich bin.
Bilder:
- Foto von Thomas Bormans auf Unsplash

