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ADHS und Inhibition – Warum es so schwer ist, bei sich zu bleiben

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Was steckt hinter ADHS im Erwachsenenalter? ADHS ist keine reine Problematik bei Kindern. Bei vielen Menschen hält sie bis ins Erwachsenenalter an und spielt eine zentrale Rolle im Alltag. Entscheidend bei der Erklärung von ADHS ist weniger die Aufmerksamkeit an sich, sondern vielmehr die Hemmung automatischer Reaktionen, also Inhibition und ihre Steuerung durch exekutive Funktionen im Gehirn.

Warum gerade Inhibition?

Die Idee stammt unter anderem von Russell A. Barkley (1997), der in seiner Theorie vorschlägt, dass bei ADHS ein Defizit der verhaltensbezogenen Inhibition der zentrale Kern ist. In Barkleys Modell bedeutet Inhibition: Hemmung der ersten spontanen oder stark verankerten Reaktion auf einen Reiz. Es geht darüber aber auch weiter. Wenn der Reiz schon im vollen Gange ist und ein Verhalten ausgelöst hat, wäre der Fokus ein Stoppen oder Unterbrechen einer bereits laufenden Reaktion oder eines Verhaltens. Zudem kommt noch die Kontrolle von störenden, konkurrierenden Reizen oder Gedanken im Zwischenraum dazu. Wenn diese Hemmung nicht gut funktioniert, haben Betroffene größere Schwierigkeiten, Impulse zurückzuhalten, Ablenkungen auszublenden oder Verhalten gezielt über Zeiträume hinweg zu steuern. Gehen wir da noch mal rein.

Inhibition bei ADHS

Inhibition kann als Kernproblem gesehen werden. Bei ADHS ist nicht primär eine mangelnde Fähigkeit zur Aufmerksamkeit das Problem, sondern die Schwierigkeit, impulsive Reaktionen und störende Reize zu hemmen. Barkley sagt, das eine Verhaltenshemmung den ersten exekutiven Akt darstellt.

Diese Hemmungsdefizite sind messbar. Studien (Stevens et al., 2002) zeigen z.B., dass Kinder mit ADHS im Stop-Signal-Task deutliche Hemmungsverzögerungen haben. Auch ältere Kinder und Erwachsene mit ADHS zeigen in neuropsychologischen Tests Schwierigkeiten der Reaktionsinhibition.

Und das hat eine neuroanatomische Grundlage. Diese ist präfrontal und basal ganglial. Bildgebende Studien (Aron et al., 2014) zeigen, dass die Inhibition in Netzwerken funktioniert, bei denen der präfrontale Kortex (insbesondere der rechte inferior frontale Gyrus) sowie Basalganglien und Thalamus eine Rolle spielen. Diese Netzwerke sind bei ADHS-Betroffenen oft weniger gut aktiv oder strukturell verändert.

Es ist aber auch nicht immer alles gleich. Es gibt Variabilität je nach Subtyp. Die Stärke der Hemmungsdefizite variiert (Geurts et al., 2005). Bei der kombinierten Form (Impulsivität + Hyperaktivität + Unaufmerksamkeit) zeigen sich oft stärkere Inhibitionsprobleme als bei rein unaufmerksamen Subtypen.

Und was hat das jetzt für diagnostische und alltagsrelevante Konsequenzen?

Weil Hemmung so zentral ist, erklären sich viele typische ADHS-Probleme: z. B. schnelles Ablenken lassen, Schwierigkeiten bei der Planung oder dem Aufschub von Impulsen. Auch diagnostisch bedeutet das folgendes: Konzentrationstests alleine greifen zu kurz. Man braucht gezielte Tests und eine ausführliche Anamnese.

Was bedeutet das für die Praxis?

In Therapie und Beratung sollte bewusst darauf geachtet werden, Strategien zur Verstärkung der Hemmung und zur Stärkung exekutiver Kontrolle zu entwickeln: z.B. bewusste Impuls-Pause, Strukturierung von Abläufen, Minimierung von Ablenkungen. Neurobiologisch liefert das Modell Hinweise darauf, dass Interventionen (medikamentös, verhaltenstherapeutisch) auf die Verbesserung dieser Hemmungs- und Kontrollnetzwerke abzielen können.

Warum ist der Fokus auf den präfrontalen Kortex wichtig?

Der präfrontale Kortex übernimmt die Rolle, Reize zu bewerten, Impulse zurückzuhalten, Handlungsschritte zu planen und im Zeitverlauf zu steuern. Wenn diese Region oder ihre Verbindungen beeinträchtigt sind, wie es bei vielen ADHS-Betroffenen gezeigt wurde, wird die Hemmung und damit die Steuerung des eigenen Verhaltens schwieriger. Die Meta-Analyse von Heledd Hart et al. (2013) zeigt z. B. bei ADHS deutliche Unterschiede in der Aktivierung dieser Kontrollnetzwerke.

Körpertherapeutische Perspektive – den Zwischenraum spüren

Inhibition ist nicht nur ein kognitiver Akt, sondern auch ein körperlicher Prozess. Der Moment zwischen Reiz und Reaktion lässt sich über Körperwahrnehmung und Bewegung konkret üben. Methoden wie Feldenkrais, Sensory Awareness, Zapchen Somatics oder polyvagal orientierte Übungen fördern die Fähigkeit, den Körper als Resonanzraum für innere Impulse wahrzunehmen. Eine einfache Praxis kann darin bestehen, bei einem aufkommenden Impuls, etwa dem Bedürfnis, sofort zu handeln oder zu sprechen, kurz innezuhalten, den Atem zu spüren, die Füße am Boden wahrzunehmen und die Aufmerksamkeit auf den Körper zu richten. Dieses bewusste Registrieren schafft einen sehr kleinen Zwischenraum, in dem sich Reaktionen verlangsamen und Selbststeuerung erfahrbar wird. Über regelmäßige somatische Übungen wird so das, was neurobiologisch als präfrontale Hemmung beschrieben wird, auch körperlich erfahrbar: das Innehalten, Spüren und bewusste Entscheiden. Damit wird Selbstregulation nicht nur trainiert, sondern verkörpert.

Fazit

Adulte ADHS sollte man nicht nur als Aufmerksamkeitsproblem verstehen, sondern als Störung der Hemmung und Steuerung. Wenn man die Inhibition ins Zentrum rückt, also die Fähigkeit, Impulse auszubremsen, störende Reize zu ignorieren, Handlungen über Zeit zu steuern, gewinnt man einen Schlüssel zum tieferen Verständnis, nämlich, warum viele Alltagssituationen für Betroffene komplizierter sind, warum Diagnostik sorgfältiger sein muss, und welche therapeutischen Ansätze sinnvoll sein können.

Literatur:

  • Aron, A. R., Robbins, T. W., & Poldrack, R. A. (2014). Right inferior frontal cortex: addressing the rebuttals. Frontiers in human neuroscience, 8, 905. https://doi.org/10.3389/fnhum.2014.00905
  • Barkley R. A. (1997). Behavioral inhibition, sustained attention, and executive functions: constructing a unifying theory of ADHD. Psychological bulletin, 121(1), 65–94. https://doi.org/10.1037/0033-2909.121.1.65
  • Geurts, H. M., Verté, S., Oosterlaan, J., Roeyers, H., & Sergeant, J. A. (2005). ADHD subtypes: do they differ in their executive functioning profile?. Archives of clinical neuropsychology : the official journal of the National Academy of Neuropsychologists, 20(4), 457–477. https://doi.org/10.1016/j.acn.2004.11.001
  • Hart, Heledd & Radua, Joaquim & Nakao, Tomohiro & Mataix-Cols, David & Rubia, Katya. (2012). Meta-analysis of Functional Magnetic Resonance Imaging Studies of Inhibition and Attention in Attention-deficit/Hyperactivity Disorder Exploring Task-Specific, Stimulant Medication, and Age Effects. Archives of general psychiatry. 70. 1-14. 10.1001/jamapsychiatry.2013.277.
  • Stevens, J., Quittner, A. L., Zuckerman, J. B., & Moore, S. (2002). Behavioral inhibition, self-regulation of motivation, and working memory in children with attention deficit hyperactivity disorder. Developmental neuropsychology, 21(2), 117–139. https://doi.org/10.1207/S15326942DN2102_1

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