In einer Gesellschaft, die von ständiger Beschleunigung, Leistungsdruck und permanenter Reizüberflutung geprägt ist, wird die Fähigkeit zur Selbstfürsorge immer wichtiger – und zugleich immer seltener gelebt. Viele Menschen verlieren den Zugang zu sich selbst, funktionieren im Alltag, aber spüren sich dabei kaum noch. Der Körper, einst Kompass für innere Zustände, wird häufig ignoriert, bis er in Form von Erschöpfung, Verspannung oder Krankheit laut wird. Gerade in kreativen, emotional fordernden Berufen – wie dem Schauspiel – ist diese Entwicklung besonders spürbar. Wer täglich mit tiefen Gefühlen arbeitet, braucht einen sicheren inneren Raum und eine bewusste Verbindung zum eigenen Körper.
Vor diesem Hintergrund gewinnt die Frage an Bedeutung: Wie kann Körperwahrnehmung als Ressource für emotionale Stabilität, Selbstregulation und künstlerische Ausdruckskraft genutzt werden? Die vorliegende Studie von Helga Thommessen (2023) geht dieser Frage nach, indem sie untersucht, wie die körperzentrierte Methode TRE (Tension and Trauma Releasing Exercises) Schauspielstudierende dabei unterstützen kann, sich selbst bewusster wahrzunehmen, sich zu regulieren – und so ihre persönliche wie professionelle Entwicklung zu fördern.
Theorie der Studie
Die Studie basiert auf der Annahme, dass körperliche Selbstwahrnehmung (body awareness) ein zentrales Element für die persönliche und professionelle Entwicklung von Schauspielstudierenden ist. Schauspiel erfordert einen offenen, präsenten, emotional verfügbaren und verkörperten Zugang zur Rolle – und genau diese Fähigkeiten können durch körperorientierte Methoden wie TRE (Tension and Trauma Releasing Exercises) unterstützt werden. TRE wurde ursprünglich von David Berceli entwickelt, um Spannungen und Traumata durch neurogenes Zittern aus dem Körper zu lösen. Die Autorin verbindet die körperorientierte Schauspielpraxis mit theoretischen Perspektiven aus dem somatischen Lernen, der Embodiment-Forschung sowie mit Trauma- und Körpertherapie.
Die Studie
Es handelte sich um eine qualitative Fallstudie, bestehend aus sechs Schauspielstudierende in Norwegen (3 Frauen, 3 Männer). Die Studie ging über 8 Wochen. Fokus war die Integration von TRE in den Unterricht einer Schauspielschule. Dabei wurden folgende Methoden zur Datenerhebung genutzt: Teilnahmebeobachtungen, Einzelinterviews mit den Studierenden, sowie eigene Reflexionen der Forscherin als Kursleiterin. Die Übungen fanden regelmäßig statt und wurden mit Reflexionen im Plenum ergänzt. Es wurde ein sicherer, nicht-performativ bewerteter Raum geschaffen.
Ergebnisse
Die Hauptkategorien aus der Datenanalyse waren:
- Körperliche Präsenz und Selbstwahrnehmung: Alle Teilnehmenden berichteten über eine intensivere Wahrnehmung des eigenen Körpers, mehr Erdung, innere Ruhe und „bei sich sein“. Die Wahrnehmung subtiler innerer Prozesse wurde geschärft.
- Emotionale Regulation und Sicherheit: Die Übungen halfen, emotionale Zustände besser wahrzunehmen und zu regulieren. Das Zittern wurde als entlastend und befreiend erlebt. Teilnehmende fühlten sich sicherer in sich selbst.
- Künstlerische Ausdrucksfähigkeit: Einige Studierende berichteten von mehr Authentizität, emotionaler Tiefe und Leichtigkeit beim Spielen.
- Hemmungen und Widerstände: Eine Person konnte sich nicht auf die Methode einlassen und empfand sie als unangenehm. Dies wurde respektvoll thematisiert und zeigt, dass TRE nicht für alle passt.
Diskussion – wichtige Punkte
TRE kann als unterstützendes Werkzeug die somatische Grundlage für Schauspielprozesse stärken. Körperliches Zittern wird in der westlichen Kultur oft negativ bewertet; die Umdeutung als Ressource war daher ein wichtiger Schritt. Die Integration körperlicher Selbstwahrnehmung verbessert emotionale Resilienz und künstlerische Authentizität. Die pädagogische Haltung (kein Leistungsdruck, kein „richtig oder falsch“) war essenziell für die Wirksamkeit.
Gab es auch Limitationen?
Es handelte sich bei der Studie um eine sehr kleine Fallzahl (n = 6). Es gab keine Kontrollgruppe. Alle Teilnehmenden kamen aus demselben kulturellen Kontext (Norwegen). Erhoben wurden subjektive Einschätzungen. Es gab keine objektiven Messinstrumente. Die Kursleiterin war gleichzeitig Forscherin was zu einer potenziellen Verzerrung führen kann.
Ist die Studie übertragbar auf andere Populationen?
Die Ergebnisse sind nicht ohne Weiteres generalisierbar, lassen aber fundierte Hypothesen für weitere Forschung zu. Die positiven Effekte auf Selbstregulation, Körperwahrnehmung und emotionale Stabilität könnten auch für andere Gruppen (z. B. Tänzer:innen, Therapeut:innen, Menschen in stressbelasteten Berufen) relevant sein, sofern der Ansatz kultursensibel vermittelt wird.
Integration in den Alltag
Die Übungen sind einfach, benötigen wenig Zeit und kein Equipment – daher gut in Alltag und Beruf integrierbar. Voraussetzung ist jedoch ein sicherer Rahmen, achtsame Begleitung und das Wissen um mögliche emotionale Prozesse.
Was ist nun die Quintessenz?
TRE kann die körperliche und emotionale Selbstregulation stärken und bietet eine tiefe Ressource für die persönliche und künstlerische Entwicklung von Schauspielstudierenden. Die Methode fördert Präsenz, Authentizität und Sicherheit im Körper, was für darstellende Künste zentral ist. Gleichzeitig zeigt die Studie, dass Körperarbeit individuell unterschiedlich wirkt – Offenheit und Freiwilligkeit sind entscheidend.
Literatur:
- Cathrine Scharff Thommessen, Cathrine Scharff & Fougner, Marit (2020). Body awareness in acting – a case study of TRE as a supporting tool for drama students’ personal and professional development, Theatre, Dance and Performance Training, DOI: 10.1080/19443927.2019.1694971
Bilder:
- Foto von Javad Esmaeili auf Unsplash