Im Artikel Berühren und berührt werden – Zwischen Alltag, Therapie und Transzendenz schreibe ich über die Bedeutung von Berührung in verschiedenen Dimensionen des Lebens und ihrer Rolle für das menschliche Wohlbefinden. In der modernen digitalen Gesellschaft, in der physischer Kontakt zunehmend durch virtuelle Interaktionen ersetzt wird, wird hinterfragt, ob Berührung nur körperlich ist oder auch andere Formen umfasst. Dabei gibt es mehrere Ebenen.
Berührung in ihren Dimensionen: Von der physischen zur metaphysischen Ebene
- die Körperliche Ebene: Körperliche Berührung, etwa durch Kontakt zwischen Menschen, ist essenziell für soziale Beziehungen und emotionales Wohlbefinden. Studien zeigen, dass Mangel an Berührung negative Folgen haben kann. Körpertherapien wie Feldenkrais oder Massage haben nachweislich positive Effekte auf mentale und körperliche Gesundheit.
- die Seelisch-emotionale Ebene: Berührungen vermitteln Zuneigung, Trost oder Ablehnung und beeinflussen Beziehungen stark. Sie können tief in die Gefühlswelt reichen, Nähe schaffen oder Distanz verdeutlichen. Auch nonverbale Gesten wie ein Lächeln können emotional berühren.
- die Geistig-emotionale Ebene: Gedanken, Worte und Ideen haben das Potenzial, Menschen emotional zu berühren, indem sie Gefühle und Reflexionen auslösen. Literatur oder kreative Werke können ebenfalls eine Form von „geistiger Berührung“ darstellen.
- und die Metaphysisch-transpersonale Ebene: Diese Ebene bezieht sich auf Berührung als Verbindung mit etwas Größerem, jenseits von Zeit und Raum. Sie schafft Sinn und Halt, besonders in der Auseinandersetzung mit Themen wie Vergänglichkeit und Tod.
Man sagt, die Würde des Menschen ist unantastbar. Der Mensch jedoch ist tastbar, berührbar, und dies nicht nur auf körperlicher Ebene. Berührung gehört sozusagen zu den Grundbedürfnissen des Menschen. Die Abwesenheit von Berührtwerden macht nicht nur unglücklich, sondern auch krank. Beim Lesen des neuen Buches “Toxische Weiblichkeit” von Sophia Fritz stoß ich auf eine sehr interessante Passage, welche ich hier wiedergeben möchte. Diese Passage erinnerten mich an meine eigenen Gedanken zum Thema Berühren und Berührtwerden.
Performative Intimität: Nähe ohne Verletzlichkeit
“Vor kurzem erzählte mir ein Produzent bei einem Networking-Event begeistert von einer Kollegin, die von Anfang an vollkommen offen war, weil sie ihm gleich alle möglichen Details aus ihrem Sex- und Beziehungsleben anvertraute. Da dachte ich nur: Ich kenn das, und ich weiß, es ist das Gegenteil von Offenheit. Wenn dir jemand von Anfang an so viel erzählt, dann nicht, weil du besonders vertrauenswürdig bist, sondern, weil die andere Person Intimität professionalisiert hat. Ich kann auf der Bühne über mein Sex- und Beziehungsleben reden, mache mich dabei aber keineswegs verletzbar. Wenn man Intimität zu performen weiß, hinterlassen selbst Bekenntnisse, die zutiefst persönliche wirken, ein Gefühl von Einsamkeit - und das, obwohl sich dir dein Gegenüber ganz nah fühlt” (Fritz, 2024, S. 33).
Hier wird die Diskrepanz zwischen scheinbarer Offenheit und tatsächlicher Verletzlichkeit thematisiert. Sophia Fritz beschreibt, wie eine Person durch das Teilen von intimen Details einen Eindruck von Nähe und Vertrauen erzeugen kann, ohne dabei wirklich eine tiefere Verbindung oder Verwundbarkeit einzugehen. Diese Form von Intimität gleicht eher einer professionellen oder performativen Handlung selbst, als ein Ausdruck echter Offenheit zu sein. Selbst scheinbar tief persönliche Bekenntnisse können ein Gefühl von Einsamkeit hinterlassen, weil sie strategisch eingesetzt werden, um Nähe zu simulieren, ohne dass die erzählende Person tatsächlich verletzbar wird. Dies kann unter anderem auch zu Spannungen führen. Was hier jedoch nicht der Fall ist, ist wahrgenommene Berührung. Das Gespräch erscheint eher als ein Austausch von Worthülsen, ohne weitere tiefgründigere Bedeutung.
Auch Richard Sennett (2000) thematisiert die Schwierigkeit, echte Intimität oder verbindliche Beziehungen in einer durch Kapitalismus und Performanz geprägten Welt herzustellen. Bei Fritz geht es eher um die professionelle Inszenierung von Intimität: Menschen teilen persönliche Details strategisch, wodurch eine Illusion von Nähe entsteht, ohne echte Verletzlichkeit oder Verbindung zu schaffen. Diese performative Offenheit ist letztlich leer und isolierend.
Sennett beschreibt im Kontext des neuen Kapitalismus eine ähnliche Dynamik: Die Kurzfristigkeit und Flexibilität der modernen Arbeitswelt zerstören langfristige Bindungen, Vertrauen und das Gefühl von gegenseitiger Verpflichtung. Der Mensch wird auf seine Funktionalität reduziert, wodurch authentische Beziehungen sowohl im beruflichen als auch im persönlichen Kontext erschwert werden. Intimität bleibt oberflächlich, da das System keine stabile Grundlage für tiefergehende Verbindungen bietet. Weder die performative Intimität bei Fritz noch die flexiblen Strukturen bei Sennett schaffen die Voraussetzungen für echte Nähe, da beides auf kurzfristige Wirkung und strategische Selbstdarstellung abzielt und keinen Raum für tiefe, vertrauensvolle Bindungen lässt.
Ist Sharing immer Caring?
Jetzt könntest du natürlich einwenden, aber was wäre, wenn ich gar keine Verbindung möchte, was wäre, wenn mir das alles zu viel ist, was wäre, wenn ich Distanz und Selbstdarstellung toll finde. Darauf würde ich dann eventuell einwenden, dass dies für dich ja total in Ordnung sei, und du so leben darfst, wie es deinem Gusto entspricht. Doch leider ist dies für sehr viele Menschen nicht zutreffend. Viele Menschen sehnen sich regelrecht nach einer tiefgründigen und langfristigen Verbindung zu einem oder mehreren anderen Menschen. Diese Verbindung kommt durch gegenseitiges Vertrauen zustande. Gegenseitiges Vertrauen wiederum will erarbeitet werden. Die Erarbeitung kann natürlich durch das Teilen von bedeutsamen Inhalten erreicht werden. Dies muss allerdings nicht immer der Fall sein.
Der Satz “Sharing is caring” mag implizieren, dass Teilen stets aus Fürsorge und Mitgefühl geschieht, doch dies ist keineswegs immer der Fall. Teilen kann Sichtbarkeit schaffen und persönliche Missstände oder Probleme aufdecken, doch ebenso kann es Voyeurismus befördern, Privilegien ausnutzen oder auch den eigenen Kontrollzwang befördern. Das Teilen von intimen Inhalten birgt ethische Dilemmata. Es kann aufklären und mobilisieren, aber auch retraumatisieren oder Aufmerksamkeit auf Banalitäten lenken. Die Intention und die Reflexion hinter dem Teilen entscheiden darüber, ob es einen positiven oder negativen Einfluss hat. Ein bewusster Umgang mit dem, was man teilt, ist daher essenziell und zwar mit der Frage im Fokus: Macht dieser Beitrag die Beziehung und/oder die Welt besser?
Ethik des Sehens: Verantwortung durch wahres Ansehen
Ich möchte hier noch einmal die Philosophie von Emmanuel Levinas (1985) aufgreifen, die mich seit meiner Schulzeit fasziniert. Levinas beschreibt die “Ethik des Antlitzes”, bei der die Augen eine zentrale Rolle spielen. Durch die Augen entsteht echte Begegnung: Sie ermöglichen einen Blick in die Seele des anderen und schaffen eine Beziehung, die über rein äußere Gestik oder Mimik hinausgeht. Für Levinas repräsentiert das Antlitz die Verletzlichkeit des Gegenübers. Diese wird durch die Augen vermittelt und bildet die Grundlage für zwei essenzielle Aspekte: Verantwortung und Einzigartigkeit. In den Augen eines Menschen erkennen wir seine Einzigartigkeit – und genau aus dieser Wahrnehmung erwächst eine ethische Verantwortung.
Doch dafür braucht es mehr als bloßes Sehen; es braucht echtes Ansehen. Ob wir uns wirklich ansehen, hängt eng mit Sicherheit zusammen. Denn das tiefe Bedürfnis eines Menschen, gesehen zu werden, verlangt nach einem sicheren, liebevollen und verbindenden Blick des Gegenübers. Solch ein Blick schafft Intimität und macht wahre Begegnung und somit wahre Berührung möglich.
Fazit
Berührung ist weit mehr als ein physischer Kontakt. Sie ist ein vielschichtiger Ausdruck des Menschseins, der Körper, Seele, Geist und Metaphysik umfasst. In einer Zeit, die von digitaler Kommunikation und performativer Intimität geprägt ist, bleibt die Suche nach echter Verbindung zentral. Ob durch den bewussten Umgang mit Intimität, das Schaffen von Vertrauen oder die Begegnung mit der Einzigartigkeit des Anderen, echte Berührung erfordert Achtsamkeit, Reflexion und einen liebevollen Blick. Sie ist ein Grundbedürfnis, das nicht nur Nähe schafft, sondern auch Heilung und Bedeutung für unser Leben bringt.
Literatur:
- Fritz, Sophia (2024). Toxische Weiblichkeit. Berlin: Carl Hanser Verlag
- Levinas, Emmanuel (1985). Ethics and Infinity. Pittsburgh: Duquesne University Press
- Sennett, Richard (2000). Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus. Berlin: Siedler Taschenbuch
Bilder: