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Bedürfnisse – Blickwinkel – Teil 2 – Erich Fromm

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Im ersten Teil dieser Serie habe ich mich mit Abraham Maslow befasst. Seine Bedürfnispyramide zeigt, wie menschliches Handeln aus dem Streben nach Bedürfnisbefriedigung erwächst – von elementaren Grundbedürfnissen wie Nahrung und Sicherheit bis hin zu Zugehörigkeit, Selbstwert und Selbstverwirklichung. Maslow machte eines deutlich: Unerfüllte Bedürfnisse erzeugen Leid, erfüllte Bedürfnisse ermöglichen Wachstum und Sinn. Trotz Kritik bleibt sein Modell ein kraftvolles Bild, um zu verstehen, warum wir uns nach innerem Gleichgewicht und Entfaltung sehnen.

Im nächsten Teil wenden wir uns Erich Fromm zu, der die Frage nach Bedürfnissen auf eine andere Ebene stellte: weniger als hierarchische Stufen, sondern als Wegweiser für ein gelingendes, authentisches Leben in Freiheit, Liebe und Verbundenheit.

Erich Fromm, kurz: wer, was, wann, usw.

Erich Fromm (1900–1980) war ein deutsch-amerikanischer Sozialpsychologe und Neo-Freudianer, der Psychologie mit Soziologie, Philosophie und politischer Ökonomie verband. Er untersuchte, wie politische, ökonomische und religiöse Institutionen die Persönlichkeit formen und wie soziale Bedingungen entweder Ängste lindern oder verstärken können. Sein Interesse lag weniger bei biologischen Trieben als bei den sozialen Bedingungen menschlichen Seins: wie Menschen sich an kulturelle Systeme anpassen und welche Folgen das für ihr inneres Leben hat. 

Fromm formulierte seine wichtigsten Thesen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, einer Epoche großer sozialer Umbrüche: der Übergang von feudalen zu kapitalistischen Strukturen, Industrialisierung, Aufstieg der Massenkultur, Weltkriege und die Entstehung totalitärer Bewegungen. Diese historischen Prozesse sind zentral für seine Theorie: er zeigt, wie dabei einerseits “Freiheit von” äußeren Zwängen zugenommen hat (z. B. Mobilität, Wegfall erblicher Berufszuteilung), andererseits aber die Voraussetzungen für echte Selbstentfaltung “Freiheit zu” verloren gegangen sind — etwa durch Anonymisierung, Zweckrationalität und die Entfremdung in modernen Produktionsweisen. Wenn wir uns jetzt die Grundbedürfnisse nach Fromm ansehen, ist es wichtig, diese aus einem historischen Kontext zu tun, daher dieser sehr kurze Abriss. Nun zu den Bedürfnissen.

Fromms fünf seelische Grundbedürfnisse

Menschen haben, zusätzlich zu rein körperlichen bzw. organischen Trieben, fünf grundlegende inorganische Bedürfnisse, die aus der menschlichen Vulnerabilität bei Geburt und dem Bewusstsein der eigenen Endlichkeit entstehen. Fromm versteht diese Bedürfnisse als rein psychologischer Natur, die aus der menschlichen Heimatlosigkeit resultieren, also dem Verlust der natürlichen Verwurzelung in der Welt. Daher sieht er sie als essenziell an, um Orientierung, Identität und psychisches Gleichgewicht zu finden.

  1. Bezogenheit

    Das Bedürfnis Bezogenheit bedeutet, sich mit anderen zu verbinden, um Einsamkeit und Isolation zu überwinden. Für Fromm ist soziale Bindung zentral: Beziehungen geben Halt, Sinn und verhindern die destruktiven Effekte absoluter Isolation. Die höchste Erfüllung findet sich in liebevoller Verbundenheit, die Individualität und Integrität bewahrt.

  2. Transzendenz

    Damit meint Fromm das Bestreben, sich über die bloße Natur hinaus zu erheben — kreativ etwas zu schaffen, sich als wirkmächtig zu erleben (positive Transzendenz). Fehlt der konstruktive Kanal, kann Transzendenz in destruktives Verhalten (Zerstörung, Aggression) umschlagen. Fromm hebt hervor, dass Menschen einen Drang haben, etwas zu bewirken, sei es produktiv oder destruktiv.

  3. Verwurzelung

    Hier spricht Fromm das Bedürfnis nach Zugehörigkeit, Verwurzelung und Kontinuität (z. B. familiäre oder gemeinschaftliche Bindungen). Früher gaben stärkere soziale Netze (z. B. Zünfte, Gemeinschaften) diese Verwurzelung; ihre Erosion erhöht bei Fromm das Risiko, dass Menschen nach Ersatzmechanismen suchen. Es ist nicht zu leugnen, der Mensch hat eben den Wunsch, wieder einen festen Platz in der Welt zu finden – emotional, sozial oder kulturell –, um Geborgenheit nach der frühen Mutterbindung zu erfahren. Dieses Bedürfnis muss produktiv, z. B. in Form von Brüderlichkeit, befriedigt werden, um nicht regressiv abhängig zu bleiben. Unter Brüderlichkeit versteht Fromm die Liebe zum Nächsten nach Überwindung inzesthafter Bindungen in der Kindheit. Letztendlich übernehmen Institutionen wie der Staat, die Kirche, die Gruppe, die Funktion, ein Gefühl der Verwurzelung zu ermöglichen.

  4. Identität

    Ich möchte das Wort “unverwechselbar” betonen. Hier findet sich der Wunsch, ein eigenständiges, unverwechselbares Selbst zu sein. Identität ist bei Fromm keine rein innere Tatsache, sie entsteht im Verhältnis zur Gesellschaft. Diese Identität kann tragfähig und bewusst sein oder sich illusorisch durch Konformität äußern. Dabei stellen sich Fragen wie, in welcher Rolle, in welchem sozialen Kontext sich das Ich entwickelt. Ohne authentische Identität droht Entfremdung oder Konformität. Sich selbst als Ich, also als getrenntes Wesen zu seiner Umwelt, zu empfinden, ist eine wichtige Voraussetzung seelischer Gesundheit.

  5. Orientierung und Hingabe

    Ein stabiles Weltbild, Werte und Ideale, die Orientierung stiften, ermöglichen erst sinnvolles Handeln. Ohne verlässliche Orientierung entsteht Orientierungslosigkeit, die Angst und Fluchtmechanismen begünstigt. Das Bedürfnis nach einem verständlichen Weltbild und einem sinnstiftenden Bezugspunkt, um Handlungsrichtung und Lebenssinn zu finden, wird als Grundstein in der frühkindlichen Entwicklung gelegt und später durch komplexe und mehrdeutige gesellschaftliche Mechanismen erschwert. Wird dieses Bedürfnis unproduktiv beantwortet, äußert es sich etwa in Ideologismus oder blinder Unterwerfung.

Wie Fromm die Bedürfnisse interpretiert — dynamisch, gesellschaftlich eingebettet

Fromm sieht Bedürfnisse nicht als isolierte, biologische Instanzen, sondern als soziokulturell vermittelte Motivationen. Ob und wie Bedürfnisse erfüllt werden können, hängt stark von wirtschaftlichen, politischen und religiösen Institutionen ab. Im Feudalsystem war die Freiheit von äußeren Beschränkungen gering, zugleich aber oft die Freiheit zu (Produktion als ganzer Handwerksprozess, eingebettet in soziale Strukturen), die kreative Selbstentfaltung erlaubte. Mit dem Übergang zur kapitalistischen Industrieproduktion wurde die Freiheit von (physische Mobilität, Wahlmöglichkeiten) größer, die Möglichkeiten für produktive Selbstentfaltung (z. B. das ganze Produkt selbst herstellen) aber meist geringer — was Fromm als Quelle weitverbreiteter Unzufriedenheit und Angst sieht. Schauen wir uns das Konzept von Freiheit bei Fromm noch einmal an.

Fromms Konzept von Freiheit

Fromm unterscheidet zwei Arten von Freiheit:

  1. „Freedom from“ (Freiheit von äußeren Zwängen - negative Freiheit)

    Damit mein Fromm das, was man gewöhnlich unter Freiheit versteht: keine Gefangenschaft, keine Hungersnot, keine physische Unfreiheit. Diese Form ist notwendig, aber nicht hinreichend.

  2. „Freedom to“ (positive Freiheit)

    Das ist die Freiheit, das eigene individuelle Potential zu entfalten. Für Fromm ist positive Freiheit verwoben mit produktiver Liebe und produktiver Arbeit: erst wenn Menschen im täglichen Tun kreativ sind, Bedeutung finden und in zwischenmenschlicher Liebe gegenseitigen Respekt erleben, kann echte Persönlichkeit und psychische Gesundheit entstehen. Positive Freiheit ist also keine Abwesenheit von Zwang, sondern die Möglichkeit zur aktiven Selbstverwirklichung innerhalb sozialer Rahmenbedingungen.

Viele Menschen in westlichen Industriegesellschaften besitzen zwar “freedom from” (z. B. physische Mobilität), doch fehlt oft die “freedom to”, weil Arbeit und soziale Institutionen keine produktive Selbstentfaltung ermöglichen. Diese Diskrepanz ist zentral für Fromms Diagnose moderner Entfremdung. Und damit kommen wir zu einem noch weiteren wichtigen Punkt, denn Fromm Potenzial nennt.

Was meint Fromm mit Potential?

In Fromms Verständnis ist Potential die individuelle Fähigkeit zur produktiven Aktivität — kreativem, sinnstiftendem Schaffen in Arbeit und Beziehung. Psychische Gesundheit bedeutet, dieses einzigartige Potential zu realisieren: im Beruf als kreative Tätigkeit und  nicht nur als repetitiver Lohnjob und in Beziehungen als liebevolle, kooperative Verbindungen und nicht aus Zweck oder Anpassung. Wenn gesellschaftliche Strukturen diese Realisierung blockieren (z. B. Fließbandarbeit, starke Konkurrenz, entfremdete soziale Normen), bleiben Potenziale ungenutzt und es entsteht psychisches Leiden.

Kurz:

  • Potential = individuelle Möglichkeit zur schöpferischen Selbstentfaltung
  • Freiheit = die gesellschaftliche Bedingung, diese Möglichkeit zu nutzen. 

Ich denke, es dürfte mittlerweile klar werden, welche Umstände Fromm als Erschwerung der Erfüllung von Bedürfnissen verantwortlich macht.

Welche Mechanismen entstehen, wenn Bedürfnisse nicht erfüllt werden?

Fromm beschreibt mehrere Kompensationsmuster, mit denen Menschen der Angst vor Isolation und Unsicherheit entgehen — er nennt das die Flucht vor der Freiheit.

Es mag Menschen geben, die autoritäre Tendenzen verwirklichen, wenn sie sich ohnmächtig fühlen. Sie verbinden sich dann mit einer mächtigen Instanz, z.B. einem Führer oder einer Ideologie. Diese Verschmelzung kann in sadistischer oder masochistischer Form stattfinden. Andere wiederum legen destruktive Tendenzen an den Tag, in dem sie ihre Aggression nach außen nutzen, um etwas zu zerstören. Dies dient dann als Ersatzhandlung für produktive Schöpfung.

Wieder andere bevorzugen den Rückzug. Sie ziehen sich aus der gemeinsamen Realität zurück. Flucht in eigene Irrationalität oder Isolation ist leider auch keine Lösung, wenn es auch vorübergehend Linderung verschaffen mag. Wenn das dann nicht hilft, gäbe es da noch die Möglichkeit der Inflation. Damit meint Fromm sich ein grandioses Selbstbild als Kompensation zuzulegen. Durch diese Überhöhung des Ichs entsteht eine Abgrenzung nach außen, wenn auch dysfunktional, leider auch mit der Wirkung, dass sich andere Menschen dann von einem abwenden.

Ich denke mal, der Konformismus ist die Form, die Fromm am meisten beanstandet. Anpassung an gesellschaftliche Erwartungen ist für viele die neue Norm geworden. Damit geht ein Verlust der individuellen Authentizität einher. Es kommt zu vermehrten Pseudogedanken und -gefühlen anstelle eigenen Denkens. Diese Reaktionsmuster sind in Fromms Analyse keine bloßen individuellen Pathologien, sondern auch Ergebnisse sozialer Strukturen, die keine Möglichkeit zur produktiven Selbstverwirklichung bieten. Und wie wir alle wahrscheinlich wissen, hatte Fromm so seine berechtigte Kritik am Kapitalismus.

Warum Kapitalismus problematisch ist

Wir haben eine industrielle Massenproduktion, d.h. Fließbandarbeit und Spezialisierung. Dies nimmt den Arbeitenden die Möglichkeit, ein Produkt ganzheitlich zu gestalten; das zerstört Chancen für produktive Arbeit (kreatives Tun, Stolz auf das Endprodukt) und untergräbt deshalb auch produktive Beziehungen. Der Wettbewerb des Kapitalismus schwächt die vormals kooperative Kultur von Handwerkergilden und Gemeinwesen. Beides hat Fromm als förderlich für Verwurzelung und produktive Liebe betrachtet.

Kurz: ökonomische Struktur beeinflusst direkt, ob Bedürfnisse realistisch befriedigt werden können. 

Was heißt das praktisch für die psychologische Arbeit und die Gesellschaft?

Therapeutisch fordert Fromms Modell, psychische Probleme nicht nur individuell zu sehen, sondern auch die sozialen Bedingungen in Betracht zu ziehen: Arbeitssituation, soziale Bindungen, kulturelle Erwartungen. Interventionen, die Identität, Verwurzelung und produktive Tätigkeiten fördern, wirken nach Fromm heilend.

Gesellschaftlich spricht sich Fromm dafür aus, demokratische Grundsätze zu erhalten, aber kapitalistische Strukturen so zu verändern, dass Arbeit und Leben mehr Möglichkeiten zur produktiven Entfaltung geben (z.B. gerechtere Ressourcenverteilung, Schaffung von Arbeitsformen mit kreativer Beteiligung). Das ist sein Aufruf, positive Freiheit gesellschaftlich zu ermöglichen.

Und nun?

Fromm identifiziert fünf zentrale seelische Bedürfnisse: Bezogenheit, Transzendenz, Verwurzelung, Identität, Orientierung — sie sind sozial vermittelt und für psychische Gesundheit zentral. Freiheit bei Fromm ist zweifach: Freiheit von äußeren Zwängen (notwendig) und Freiheit zu (positiv: die Chance, das eigene Potential durch produktive Liebe und Arbeit zu entfalten). Die zweite ist die eigentlich entscheidende für seelisches Wohlbefinden. Fehlende Möglichkeiten zur Bedürfnisbefriedigung führen zu Fluchtmechanismen (autoritäre Tendenzen, Rückzug, Konformismus etc.). Gesellschaftliche Strukturen (insbesondere Formen der Arbeit in kapitalistischen Systemen) entscheiden maßgeblich, ob Menschen ihre Potenziale realisieren können — Fromm fordert sowohl individuelle als auch politische Reformen.

Fromms Analyse zeigt uns nicht nur, was fehlt, sondern auch, was möglich ist. Er erinnert uns daran, dass wir als Menschen immer die Fähigkeit haben, unsere Potenziale produktiv zu entfalten – in kreativer Arbeit, in liebevollen Beziehungen und in der Suche nach Sinn. Positive Freiheit bedeutet, dass wir mehr sind als Produkte unserer Umstände: wir können gestalten, kooperieren, lieben und Neues hervorbringen.

In einer Zeit, in der viele Menschen unter Druck von Konkurrenz, Anpassung und Entfremdung leiden, eröffnet Fromm einen hoffnungsvollen Ausblick: Echte Freiheit ist möglich – dort, wo wir unser Menschsein in Verbundenheit, Verantwortung und schöpferischem Handeln leben. Damit lädt er uns ein, über unsere eigenen Beziehungen, unsere Arbeit und unsere Werte nachzudenken: Wo erlebe ich Verbundenheit? Wo kann ich kreativ wirken? Wo richte ich mich an Idealen aus? Jeder kleine Schritt in diese Richtung ist bereits ein Beitrag zu mehr innerer Ganzheit – und zu einer menschlicheren Gesellschaft.

Literatur:

  • Fromm, Erich (1966). Die Furcht vor der Freiheit. Berlin: Deutsche Buch Gemeinschaft

Bilder: