Technologische Entwicklungen verändern immer mehr unser Alltagsleben. Soziale Aktivitäten finden zunehmend in sozialen Netzwerken statt. Das digitale Zeitalter ist mittlerweile in den Köpfen der Menschen, sowie der öffentlichen Wahrnehmung eingegangen. Können wir daher von einer berührungslosen Gesellschaft sprechen, so wie das gleichnamige Buch von Elisabeth von Thadden lautet (2018)? Oder anders gefragt, ist Berührung nur körperlich haptisch und neben dem gibt es nichts weiteres? Ich denke nicht.
Berühren und berührt werden kann viele verschiedene Bedeutungen haben. Da wäre zuallererst der Körperkontakt zwischen zwei Menschen. Berührungen haben Einfluss auf soziale Beziehungen. Berührungen können Sorge und Mitgefühl symbolisieren. Welche Berührung wie ausgeführt wird und wie dieser wiederum verstanden wird ist an kulturellen Verhaltensweisen gebunden. Wilhelm Schmid (2016) unterscheidet verschiedene Ebenen des Berührens und Berührt-werdens.
Die körperliche Ebene
Sämtliche Berührungen, so auch die auf körperlicher Ebene, haben, so schreibt Schmid, einen transzendenten Charakter. Es wird dabei eine Schwelle überschritten, von einem Ich zu einer anderen Person, oder umgekehrt. Diese körperlichen Berührungen stellen eine ursprüngliche Erfahrung dar, nicht nur bei Menschen, sondern auch bei Tieren. 1958 führte ein Psychologe, namens Harry Harlow (Harlow & Zimmermann, 1959), ein Experiment mit Rhesus Affen durch. Er trennte die Neugeborenen von ihrer Mutter und teilte sie in zwei Gruppen. Eine Gruppe erhielt eine Mutter aus Draht, welche Milch spendete, die andere Gruppe aus Stoff, welche keine Milch spendete. Die Affen verbrachten die meiste Zeit bei der Stoffmutter und dies obwohl diese keine Nahrung gab. Die andere Gruppe zeigte Auffälligkeiten im Verhalten. Was soll ich sagen, ich bin so froh, dass diese Art von Experimenten heute nicht mehr stattfinden. Ein Mangel an Berührung kann für Tier und Mensch große negative Folgen nach sich ziehen.
So sprechen sich Müller-Oerlinghausen und Kollegen (2022) für eine professionelle Berührungstherapie aus. Klinische Studien belegen den Nutzen solcher Techniken, sei es Feldenkrais, die Rosen Methode, Somatic Experience nach Levin, Somatic Touch nach Kathy Kain, oder die klassische Massage. Solche Therapien wirken antidepressiv, anxiolytisch und analgetisch, also weg mit Depression, Angst und Schmerz.
Die seelische-emotionale Ebene
Die seelisch-emotionale Ebene spielt eine zentrale Rolle im Erleben von Berührung. Berühren und berührt werden sind weit mehr als bloße physische Akte – sie sind Ausdruck von Zuwendung oder Abwendung und können tief in unsere innersten Gefühlswelten reichen.
Berührungen sind oft eine Sprache für sich: Sie können Zuneigung, Trost, Interesse oder auch Ablehnung und Distanz signalisieren. Ein sanftes Streichen über die Hand mag ein Zeichen von Nähe und Empathie sein, während ein bewusstes Vermeiden von Berührung eine Abgrenzung betont. Diese Dynamik bestimmt, wie wir uns in zwischenmenschlichen Beziehungen einfügen und wie sicher oder unsicher wir uns fühlen.
Jede Berührung, ob erwünscht oder unerwünscht, setzt Energien frei, die mit starken Gefühlen verbunden sein können. Eine erwünschte Berührung kann Geborgenheit, Freude oder Leidenschaft hervorrufen. Unerwünschte Berührungen hingegen können Abwehr, Angst oder gar Wut auslösen. Die emotionale Reaktion darauf ist eng mit unseren individuellen Erfahrungen, Grenzen und Bedürfnissen verknüpft.
Manchmal wirkt der Charme einer Person wie eine unsichtbare Berührung – ein Lächeln, eine sanfte Stimme oder eine einladende Geste können ebenso emotional berühren wie eine physische Berührung. Im Gegensatz dazu erzeugt Arroganz eine unsichtbare Barriere, die uns unbewusst auf Abstand gehen lässt. Diese nonverbale Kommunikation beeinflusst unsere Wahrnehmung von Nähe und Distanz.
Berührungen sind ein mächtiges Mittel, um Nähe und Distanz in Beziehungen zu regulieren. Ein Handschlag, eine Umarmung oder eine tröstende Berührung können eine Verbindung stärken und Vertrauen aufbauen. Gleichzeitig hilft uns das Setzen klarer Grenzen, unsere eigene Integrität zu wahren und die gewünschte Distanz zu wahren.
Berührung ist somit weit mehr als ein körperlicher Akt – sie ist ein Schlüssel zu unserer emotionalen Welt. In der Fähigkeit, die Balance zwischen Nähe und Distanz, Zuwendung und Abwendung zu finden, liegt die Kunst des Berührens und Berührtwerdens.
Die geistige-emotional Ebene
Die geistig-emotionale Ebene des Berührens ist ebenso vielschichtig wie faszinierend. Sie reicht weit über das hinaus, was wir durch körperlichen Kontakt erleben, und offenbart, wie stark unsere Gedanken und Gefühle miteinander verwoben sind.
Im zwischenmenschlichen Miteinander spielt der Austausch von Gedanken eine zentrale Rolle. Worte, Ideen und Perspektiven können ebenso berühren wie eine sanfte Umarmung. Doch was passiert, wenn dieser Austausch verweigert wird? Schweigen, Ablehnung oder einseitige Kommunikation können ebenfalls tiefgehende emotionale Reaktionen hervorrufen. Es liegt oft an der Deutung: Empfinden wir die Verweigerung als Schutz, als Zurückweisung oder gar als Angriff?
Wie ein Mensch eine Situation deutet, bestimmt maßgeblich, wie sie ihn berührt. Wird ein Kommentar als liebevoll erkannt, löst dies vielleicht Freude, Wärme und Nähe aus. Doch dieselben Worte können in einem anderen Kontext als ungerecht empfunden werden, was Zorn oder das Bedürfnis nach Abstand hervorruft. Diese emotionale Distanz schafft jedoch auch einen Raum, in dem Reflexion möglich wird: Was genau ist es, das mich bewegt oder berührt? Die Frage nach der eigenen Berührbarkeit eröffnet einen inneren Dialog. Sie lädt ein, genauer hinzuschauen, was in uns widerhallt – sei es ein Gedanke, eine Erinnerung oder eine Sehnsucht.
Berührungen auf der geistigen Ebene sind nicht immer direkt oder offensichtlich. Auch Ideen, Phantasien oder Romane können unser Innerstes erreichen. Eine Geschichte, die von Liebe, Verlust oder Gerechtigkeit erzählt, kann uns tief bewegen, obwohl sie vielleicht nichts mit unserem direkten Leben zu tun hat. Sie eröffnet eine Verbindung zu universellen Themen, die alle Menschen betreffen. Romane und Gedankenspiele schaffen somit eine Art „geistigen Tastsinn“, der es uns ermöglicht, emotionale Resonanzen zu erleben, ohne dass jemand physisch anwesend sein muss.
Das Berühren und Berührtwerden auf geistig-emotionaler Ebene ist ein Spiel aus Deutungen, Resonanzen und Bedeutungen. Es fordert uns heraus, nicht nur zu fühlen, sondern auch zu reflektieren. Was in uns berührt wird, kann uns helfen, uns selbst und unsere Beziehungen zu anderen Menschen tiefer zu verstehen. Diese Ebene zeigt, dass Berührung nicht nur eine physische Erfahrung ist, sondern ein zentraler Aspekt unseres Menschseins – eine Brücke zwischen unserem Inneren und der Welt um uns herum.
Die metaphysische-transpersonale Ebene
In jedem Menschen wohnt das tiefe Bedürfnis, berührt zu werden – nicht nur körperlich, sondern auch emotional und spirituell. Diese Berührung verbindet uns mit der Welt, mit anderen Menschen und mit uns selbst. Doch was geschieht, wenn wir uns mit der Dimension des Unendlichen auseinandersetzen, einer Ebene, die über das Greifbare hinausgeht?
Das Bewusstsein der eigenen Endlichkeit kann beängstigend, aber auch zutiefst transformierend sein. Es erinnert uns daran, dass unser Leben begrenzt ist, ein Augenblick im unermesslichen Fluss der Zeit. Diese Konfrontation mit der eigenen Vergänglichkeit öffnet gleichzeitig das Tor zur Erfahrung der Unendlichkeit – einer Dimension, die jenseits von Zeit und Raum existiert.
Hier beginnt die metaphysisch-transpersonale Ebene. Sie lädt uns ein, unser Leben nicht nur aus der Perspektive des Alltäglichen zu betrachten, sondern uns mit etwas Größerem zu verbinden. Diese Erfahrung kann tröstlich sein, sie kann Halt geben und das Gefühl vermitteln, eingebettet zu sein in ein größeres, haltendes Netz.
Das Bild eines Netzes, das uns umgibt und trägt, ist eine kraftvolle Metapher. Es symbolisiert die Verbindung zwischen dem Individuum und dem Unendlichen, zwischen dem Endlichen und dem Unbegrenzten. Dieses Netz kann aus Beziehungen, spirituellen Erfahrungen, Naturverbundenheit oder auch einer tiefen inneren Ruhe bestehen. Es erinnert uns daran, dass wir nie völlig isoliert sind, auch wenn es sich manchmal so anfühlt.
Die Berührung mit diesem Netz kann uns helfen, Sinn zu finden. Denn in Momenten, in denen wir den Kontakt zu uns selbst oder zu anderen verlieren, kann die Sinngebung schwinden. Diese Leere ist schmerzhaft – ein Nichtvorhandensein von Sinn kann eine innere Dunkelheit erzeugen, die das Leben schwer trägt.
Sinngebung ist eine zutiefst menschliche Qualität. Sie entsteht oft in der Berührung – sei es durch eine tiefe Begegnung, durch das Erleben von Natur oder durch Momente der Kontemplation. Wenn der Mensch keinen Sinn in seinem Leben sieht, droht eine existenzielle Leere, die sich auf die physische und psychische Gesundheit auswirken kann.
Das Berührtwerden, sei es durch die Schönheit eines Sonnenuntergangs oder die Wärme eines Mitmenschen, erinnert uns an unsere Verbindungen und lässt uns das Netz, das uns trägt, spüren. In der Berührung mit dem Leben selbst finden wir oft den Funken des Sinns, der uns wieder in die Dimension des Lebendigen zurückholt.
Sich auf die metaphysisch-transpersonale Ebene einzulassen, ist eine Einladung, sich dem Leben in seiner Tiefe hinzugeben. Es ist die Bereitschaft, berührt zu werden – von der Endlichkeit, der Unendlichkeit und allem dazwischen. Denn in dieser Berührung liegt die Möglichkeit, getragen zu werden, Sinn zu finden und dem Leben eine neue Tiefe zu geben.
Berühren und berührt werden – das ist der Tanz des Lebens. Und in diesem Tanz liegt vielleicht die größte Sinngebung von allen.
Körpertherapie
In der Körpertherapie gibt es auch Ansätze, die sich mit der Endlichkeit des Menschen, also der Vergänglichkeit, dem Tod und dem Loslassen, befassen. Hier sind einige Ideen aus solchen Methoden.
Existenzielle Psychotherapie und Körperarbeit
Existenzielle Psychotherapie (Yalom, 2003, 1980, 1995) befasst sich explizit mit den grundlegenden Aspekten der menschlichen Existenz wie Tod, Freiheit, Isolation und Sinnlosigkeit. In existenzieller Körperarbeit, die oft ein Bestandteil dieser Therapie ist, wird die Endlichkeit des Lebens auf körperlicher Ebene erfahrbar gemacht. Therapeutische Übungen, die den Atem und den Körper fokussieren, helfen, die Vergänglichkeit zu spüren und Akzeptanz zu entwickeln.
Trauma und Somatic Experiencing (SE)
In der Trauma-Arbeit nach Peter Levine (1997) wird die Endlichkeit des Lebens indirekt adressiert, da der Körper oft Traumata speichert, die mit existenziellen Ängsten oder lebensbedrohlichen Situationen zusammenhängen. Indem man lernt, die Reaktionen des Körpers zu regulieren und zu akzeptieren, kann man auch den Ängsten vor der eigenen Endlichkeit besser begegnen und sie integrieren.
Diese beiden Körpertherapieansätze arbeiten auf verschiedene Weise mit dem Bewusstsein für die Endlichkeit und ermutigen zur Akzeptanz und zum Loslassen. Sie fördern dadurch nicht nur die Auseinandersetzung mit dem Tod, sondern auch eine tiefere Wertschätzung und Präsenz im Leben. Neben diesen beiden Ansätzen gibt es natürlich noch weitere Ansätze, die ich aber persönlich nicht so gut kenne. Die Arbeit nach Yalom, sowie die Arbeit nach Levine durfte ich persönlich kennenlernen und ich kann sie sehr empfehlen.
Wir sind am Ende angekommen. Falls dich dieser Artikel berührt hat, so freue ich mich sehr und falls nicht, fühle dich herzlichst umarmt.
Literatur:
- Harlow, H. F. & Zimmermann, R. R. (1959). Affectional responses in the infant monkey; orphaned baby monkeys develop a strong and persistent attachment to inanimate surrogate mothers. Science (New York, N.Y.), 130(3373), 421–432. https://doi.org/10.1126/science.130.3373.421
- Levine, Peter A. (1997). Waking the tiger. Healing Trauma. Berkeley: North Atlantic Books
- Müller-Oerlinghausen, B.; Eggart, M.; Norholt, H.; Gerlach, M.; Kiebgis, G. M.; Arnold, M. M., & Moberg, K. U. (2022). Berührungsmedizin - ein komplementärer therapeutischer Ansatz unter besonderer Berücksichtigung der Depressionsbehandlung [Touch Medicine - a complementary therapeutic approach exemplified by the treatment of depression]. Deutsche medizinische Wochenschrift (1946), 147(4), e32–e40. https://doi.org/10.1055/a-1687-2445
- Schmid, Wilhelm (2016). Das Leben verstehen. Von den Erfahrungen eines philosophischen Seelsorgers. Berlin: Suhrkamp
- von Thadden, Elisabeth (2018). Die berührungslose Gesellschaft. München: C.H. Beck
- Yalom, Irvin D. (2003). Was Hemingway von Freud hätte lernen können: Das große Yalom - Lesebuch. München: Btb Verlag
- Yalom, Irvin D. (1980). Existential Psychotherapy. New York: US Basic Books
- Yalom, Irvin D. (1995). The theory and practice of group psychotherapy. New York: US Basic Books