Im letzten Teil habe ich mit Martha Nussbaum den Blick geweitet, von der inneren Welt unserer Bedürfnisse hin zu den äußeren Bedingungen, die menschliche Entfaltung ermöglichen. Sie zeigte, dass Würde und Freiheit nicht nur persönliche, sondern auch gesellschaftliche Aufgaben sind. Doch selbst wenn die äußeren Voraussetzungen günstig sind und unsere Grundbedürfnisse Raum bekommen etwas bleibt noch offen: die Erfahrung von Angst. Sie begleitet jedes Werden, jedes Wachsen, jede Form von Freiheit.
Wo Bedürfnisse uns ins Leben ziehen, zeigen Ängste die Grenzen dieses Lebens auf. Sie sind keine Gegner, sondern Wächter an den Schwellen unserer Entwicklung. Hier knüpft Fritz Riemann an. Der Psychoanalytiker sah in der Angst keine Störung, sondern eine Grundkonstante menschlicher Existenz. In seinem Werk “Grundformen der Angst” (1993) beschreibt er vier Urängste, die in jedem von uns wirken. Diese Urängste können als Spannungsfelder gesehen werden, die unser Denken, Fühlen und Handeln prägen: die Angst vor Selbsthingabe, die Angst vor Selbstwerdung, die Angst vor Veränderung und die Angst vor Vergänglichkeit.
In dieser Reise durch die Welt der Bedürfnisse führt uns dieser nächste Schritt also in ein Terrain, wo Freiheit und Angst sich begegnen. Denn vielleicht lässt sich menschliche Reife gerade daran erkennen, wie wir mit dieser Spannung leben, zwischen dem Bedürfnis nach Sicherheit und dem Mut zur Offenheit.
Von Ängsten zu Grundbedürfnissen
Fritz Riemann entwickelte in seinem Buch Grundformen der Angst ein tiefenpsychologisches Modell mit vier Grundängsten: Angst vor Hingabe, Selbstwerdung, Veränderung und Notwendigkeit. Jede dieser Ängste entspricht einer bestimmten Persönlichkeitsstruktur: schizoid, depressiv, zwanghaft und hysterisch.
Für meinen Ansatz interpretiere ich diese Ängste als grundlegende Bedürfnisse, die sich antinom, also gegenseitig entgegengesetzt, zueinander verhalten:
- Nähe ↔ Distanz
- Dauer (Beständigkeit) ↔ Wechsel (Veränderung)
Diese polarisierten Bedürfnisse erzeugen bei einseitiger Ausprägung die jeweilige Grundangst. Genau darum soll es in diesem Artikel gehen. Fangen wir also mal an.
Schizoid: Das Bedürfnis nach Distanz / Autonomie
Hier versteckt sich das Bedürfnis nach Autonomie, emotionale und räumliche Distanz, Selbstbestimmung. Der schizoide Typ strebt danach, möglichst autark zu sein, unabhängig, nicht verpflichtet, emotional abgeschottet zu bleiben. Emotionen können wie ein Lichtschalter ein- und ausgeschaltet werden. Es kann zu einer erheblichen Angst bei Verletzung des Bedürfnisses kommen. Dann wirken Hingabe und emotionale Nähe bedrohlich. Wenn man diese Distanz durchbricht, kann sogar Hass aufkommen.
Frühkindliche Erfahrung von emotionaler Vernachlässigung, unregelmäßiger Verfügbarkeit, mangelnder Zuwendung und mangelnde Stabilität tragen zu dieser Entwicklung bei. Wenn dieses Bedürfnis nicht erfüllt oder zu stark ist, kann es zu sozialer Isolation und emotionaler Verarmung führen. Ein Mensch verliert sich dann in seinen Gedanken. Die Person zieht sich zurück und hat Schwierigkeiten, Nähe zuzulassen oder echte Bindungen zu erleben.
Depressiv: Das Bedürfnis nach Nähe / Eingebundenheit
Ein ganz anderes Bedürfnis sticht hier hervor, nämlich: Eingebettet sein, Zuwendung und Bestätigung durch andere. Wie zeigt sich das? Menschen mit depressiver Struktur meiden das eigenständige Ich, sie ordnen sich unter, um Nähe herzustellen. Sie sind kontaktbedürftig, warmherzig, vermeiden Konflikte, ordnen eigene Wünsche der Harmonie unter. Wenn dieses Bedürfnis verletzt wird, blockiert es die Selbstwerdung. Individualität kann somit sehr beängstigend sein. In anderen Worten, es ist die Angst, alleine zu sein oder den Bezug zu anderen Menschen zu verlieren.
Entwicklungspsychologisch führt eine Überbehütung oder extreme Verwöhnung kombiniert mit Versagungserfahrungen dazu, dass das Kind kaum lernt, eigene Bedürfnisse wahrzunehmen oder durchzusetzen. Wenn dieses Bedürfnis nicht erfüllt oder zu stark gelebt wird, können ständige Abhängigkeiten entstehen, bzw. die Unfähigkeit zur Selbstverwirklichung. Es kann auch zur Verlust der eigenen Persönlichkeit führen. Daher spricht Riemann hier von depressiven Tendenzen.
Zwanghaft: Das Bedürfnis nach Dauer / Beständigkeit
Wie steht es damit in deinem Leben: Ordnung, Sicherheit, Planbarkeit, Verlässlichkeit? All dies sind auch Bedürfnisse. Sie zeigen sich bei zwanghaften Menschen in einer strengen Strukturierung ihres Lebens. Es tendiert Richtung Perfektionismus, denn was auf jeden Fall vermieden werden muss ist die Unvorhersehbarkeit. Gefühle und Spontaneität wirken störend oder fremd. Alles muss beherrschbar sein. Wenn diese Bedürfnisse verletzt werden, wird Kontrolle zur Notwendigkeit. Veränderung, Wandel und Vergänglichkeit verursachen nämlich Angst.
Die Entstehungsgeschichte beginnt sehr früh. Frühzeitig kam es zu einer Unterdrückung spontaner Impulse, strikte Regeln und Gebote in der Kindheit schafften einen Rahmen, eher einem Korsett, dass dem Kind die Luft zum Atmen abschnürt. Das Kind lernt nicht, sich selbst zu entfalten. Wenn dieses Bedürfnis nicht erfüllt oder sich in sich selbst überschlägt, dann resultiert dies eventuell in einer Unflexibilität und Starrheit. Die Unfähigkeit zum Loslassen ist stark ausgeprägt. Das Leben wird zum Zwang und eine lebendige Entwicklung bleibt aus.
Hysterisch: Das Bedürfnis nach Wechsel / Ausdruck
Wie heißt das schöne Adagium: Express yourself. Ja, Ausdruck, von innen nach außen. Hier dreht sich alles um diese Bedürfnisse: Spontaneität, Abwechslung, kreativen Selbstausdruck, emotionale Lebendigkeit. Hysterische Persönlichkeiten leben intensiv im Hier und Jetzt. Sie sind emotional expressiv, kontaktfreudig, adaptiv, dramatisch. Doch auch die Angst bei Verletzung dieses Bedürfnisses ist groß: Festlegung, Verantwortung, Notwendigkeit. Genau das schränkt nämlich ein und ist bedrohlich, denn Verantwortung übernehmen, Entscheidungen zu treffen, sich mit Notwendigkeiten herumquälen, scheinen fast wie Wörter einer fremden Sprache.
Auch hier liegen die Anfänge sehr früh. Ein frühes Aufwachsen in unstrukturierten, widersprüchlichen Verhältnissen ohne stabile Orientierung oder Vorbilder trägt zu dieser Entstehungsgeschichte bei. Wenn dieses Bedürfnis nicht erfüllt wird, kann das im Außen von Anderen als leichtes Dahinschweifen ohne feste Identität gesehen werden. Verantwortungslosigkeit und Unbeständigkeit resultieren daraus. Der Schmerz der inneren Leere und Rastlosigkeit wiegt viel.
Summa summarum
Halten wir noch einmal fest.
- Der schizoide Mensch sehnt sich nach Distanz und Autonomie. Wenn es hier kippt, resultiert es in Isolation und emotionaler Verarmung
- Der depressive Mensch sehnt sich nach Nähe und Eingebundensein. Wenn es hier kippt, resultiert es in Abhängigkeit und Identitätsverlust.
- Der zwanghafte Mensch sehnt sich nach Dauer. Wenn es hier kippt, resultiert es in Starrheit und der Unfähigkeit sich zu entwickeln.
- Der hysterische Mensch sehnt sich nach Wechsel. Wenn es hier kippt, resultiert es in Verantwortungslosigkeit und innerer Leere.
Fazit: Es braucht eine Balance zwischen den Bedürfnissen
Riemann betont, dass niemand in Reinform ein Typ ist. Vielmehr liegen alle vier in uns, aber unterschiedlich stark akzentuiert. Ein gesundes Individuum entwickelt eine ausgewogene Integration:
- Nähe und Distanz im richtigen Maß,
- sowohl Verlässlichkeit als auch Flexibilität.
Im Rahmen meiner Serie über Bedürfnisse kannst du dir nun folgende Fragen stellen, freiwillig, versteht sich:
- Wie erkenne ich mein dominantes Bedürfnismuster?
Achte darauf, wann du dich lebendig fühlst. Suchst du eher Nähe oder Distanz, Stabilität oder Abwechslung? Dein spontanes Verhalten in Beziehungen zeigt viel. - Wie reagiert mein Umfeld darauf?
Schau, wie andere auf deine Tendenzen reagieren: Fühlst du dich oft “zu nah”, “zu fern”, “zu festgelegt” oder “zu sprunghaft”? - Welche Strategien helfen bei Ungleichgewicht?
Versuche, bewusst das Gegenpol-Bedürfnis zu nähren. Wenn du Rückzug suchst, probiere Verbindung; wenn du Kontrolle brauchst, übe Vertrauen oder Spontaneität. - Wie kann man ein ausgewogeneres Leben führen – emotional, sozial, persönlich?
Indem du nicht gegen deine Struktur kämpfst, sondern sie verstehst. Balance entsteht nicht durch Gleichmacherei, sondern durch Bewusstheit und Bewegung zwischen den Polen.
Und weil das noch nicht der Schluss ist, hier noch ein paar Worte zu Fritz Riemann.
Fritz Riemann: Der Denker hinter den Grundformen der Angst
Fritz Riemann (geb. 1902 in Chemnitz – gest. 1979 in München) war ein bedeutender deutscher Psychoanalytiker, Psychologe und Psychotherapeut. Nach seinem Studium und der psychoanalytischen Ausbildung mit Lehranalysen u. a. bei Therese Benedek, Felix Boehm und Harald Schultz-Hencke, war er Mitbegründer des Instituts für Psychologische Forschung und Psychotherapie in München, das später zur Akademie für Psychoanalyse und Psychotherapie wurde. Dort lehrte er als Ausbildungsleiter und war lange Jahre als einziger Freudianer aktiv. Sein bekanntestes Werk, Grundformen der Angst und die Antinomien des Lebens, erschien erstmals 1961. Riemann stellt darin vier grundlegende Arten menschlicher Angst vor und ordnet ihnen jeweils typische Persönlichkeitsstrukturen zu: die schizoide, depressive, zwanghafte und hysterische. Das Buch hat sich als tiefenpsychologischer Klassiker etabliert, der weit verbreitet ist.
Riemann verstand seine Typologie nicht als Krankheitssystem, sondern als eine Beschreibung von Vier Arten des In-der-Welt-Seins, die jeder Mensch auf unterschiedliche Weise in sich trägt und die sich in einem inneren Spannungsfeld (Antinomien) zwischen widersprüchlichen Grundbedürfnissen entfalten. Zudem war er eher ein Laientheoretiker, sein Werk ist leicht verständlich, weit verbreitet und in populärpsychologischen Kreisen sehr zugänglich, auch wenn dabei manchmal fachliche Missverständnisse (etwa „schizoid“ mit Schizophrenie gleichzusetzen) auftreten können.
Später im Leben wandte Riemann sich auch der Astrologie zu: 1976 veröffentlichte er das Buch Lebenshilfe Astrologie – Gedanken und Erfahrungen, in dem er einen vorurteilsfreien Ansatz zur Symbol- und Deutungsarbeit der Astrologie propagierte. Er sah astrologische Geburtshoroskope als fruchtbar für das Verständnis menschlicher Beziehungen, ein Ansatz, der auch seine psychotherapeutische Arbeit informierte.
Schlusswort
Leben geschieht zwischen Polen, zwischen dem Wunsch nach Sicherheit und dem Ruf nach Veränderung, zwischen dem Bedürfnis, gehalten zu sein, und dem Drang, uns zu befreien. Angst zeigt uns dabei, wo wir wachsen. Sie ist kein Stopp, sondern ein Übergang, kein Gegner, sondern eine Begleiterin an der Schwelle zum Neuen.
Wenn wir lernen, unsere Ängste als Ausdruck unserer Bedürfnisse zu verstehen, öffnet sich ein Raum für Bewusstheit. Dann fragen wir nicht mehr, wie wir sie loswerden können, sondern was sie uns zeigen wollen: Wo halte ich fest, wo darf ich loslassen? Wo brauche ich Raum, wo wünsche ich mir Nähe?
Zwischen diesen Spannungen entfaltet sich unsere Lebendigkeit. Balance ist kein fixer Zustand, sondern ein fortwährender Prozess des Spürens, Nachjustierens und Wachsens. Vielleicht liegt darin die eigentliche Freiheit, nicht in der Überwindung der Angst, sondern im Einverständnis mit ihr.
Literatur:
- Riemann, Fritz (1993). Grundformen der Angst. München: Ernst Reinhardt Verlag
Bilder:

