Im letzten Teil habe ich mit Klaus Grawe einen psychologisch fundierten Blick auf Bedürfnisse geworfen. Seine Konsistenztheorie zeigte, wie zentral die Befriedigung unserer Grundbedürfnisse für psychische Gesundheit ist und was geschieht, wenn sie dauerhaft verletzt oder blockiert werden. Doch Wissen allein verändert noch nichts. Denn Bedürfnisse sind keine abstrakten Konzepte, sondern lebendige Kräfte, die uns bewegen, leiten und auch in Konflikte bringen. Sie wirken in unseren Beziehungen, in unserem Körper, in unseren Entscheidungen, manchmal bewusst, oft unbewusst. Sie wollen nicht nur verstanden, sondern gelebt werden. Grawes Modell hilft uns, die innere Dynamik zu begreifen: Wie entstehen Inkonsistenzen, wie suchen wir nach Balance? Doch die Frage bleibt: Unter welchen Bedingungen kann ein Mensch seine Bedürfnisse überhaupt leben, entfalten und verwirklichen?
Hier öffnet sich der Blick nach außen, auf die Welt, in der wir leben. Die Philosophin Martha Nussbaum führt uns genau dorthin. Mit ihrem Capabilities Approach, dem Ansatz der menschlichen Fähigkeiten, verbindet sie Philosophie, Ethik und soziale Gerechtigkeit. Sie fragt nicht nur: Was braucht der Mensch innerlich, um gesund zu sein? Sie fragt auch: Was braucht er äußerlich, um ein würdiges, selbstbestimmtes und erfülltes Leben führen zu können?
In diesem vierten Teil geht es also um die Brücke zwischen innerer Bedürfnisbefriedigung und äußerer Ermöglichung menschlicher Entfaltung.
Martha Nussbaum und die Zehn Grundfähigkeiten (Capabilities)
Martha Nussbaum entwickelte den Capabilities Approach, der darauf abzielt, was Menschen tatsächlich tun und sein können. Ihre zehn zentralen Fähigkeiten, die sie als Voraussetzung für ein menschenwürdiges und gelingendes Leben ansieht, wurden unter anderem in „Gerechtigkeit oder Das gute Leben“ (1998) sowie in ihren späteren Werken (Nussbaum, 2011) systematisch formuliert. Schauen wir uns diese zehn Grundfähigkeiten mal genauer an. Vorher möchte ich allerdings kurz darauf eingehen, wer denn Martha C. Nussbaum ist.
Martha Nussbaum und ihr Forschungsschwerpunkt
Martha C. Nussbaum (1947) ist eine prominente Philosophin und Rechtswissenschaftlerin, Professorin an der University of Chicago, mit Arbeitsschwerpunkten in politischer Philosophie, Ethik, Theorien der Gerechtigkeit, Entwicklungsphilosophie und Feminismus. Sie ist bekannt dafür, normative Theorien zu entwickeln, die nicht nur abstrakt bleiben, sondern sich an konkreten Lebensverhältnissen und der Praxis messen, wie z. B. in Entwicklungspolitik, öffentliche Verfassung, Recht und soziale Gerechtigkeit (Stewart, 2013).
Ihr Capabilities Approach (Fähigkeitenansatz) fragt danach, was Menschen tatsächlich tun und sein können, also ihre echten Freiheiten, nicht allein, was sie theoretisch haben könnten oder wie zufrieden sie sind.
Die zehn Grundfähigkeiten im Detail
Ich versuche hier die Komplexität des Capabilities Approach zu reduzieren, ganz im Sinne von Weibel (2014). Basierend auf Nussbaum (1998, 2011) und Stewart (2013), hier eine Auflistung der zehn Fähigkeiten:
- Leben
Unter Leben versteht sie die Fähigkeit, ein volles Menschenleben bis zum Ende zu führen; nicht vorzeitig zu sterben oder so eingeschränkt zu leben, dass es nicht mehr lebenswert ist. - Körperliche Gesundheit
Das ist die Fähigkeit, sich guter Gesundheit zu erfreuen; sich angemessen zu ernähren; eine angemessene Unterkunft zu haben; Möglichkeiten zur sexuellen Befriedigung zu haben; sich bewegen zu können. - Schmerzbefreiung / körperliches Wohlbefinden
Hier spricht sie die Fähigkeit an, unnötigen Schmerz zu vermeiden und friedvolle Erlebnisse zu haben. Dazu zählen aber auch Bewegungsfreiheit und Schutz vor Gewalt. - Sinne, Vorstellungskraft und Gedanken
Als Praktizierender von Embodiment und Achtsamkeit gefällt mir diese Fähigkeit insbesondere, nämlich, die fünf Sinne zu nutzen, sich etwas vorzustellen, zu denken und zu urteilen. Dies schließt die Fähigkeit für Bildung und kritischen Denken mit ein. Dies führt wiederum zu einer Verbesserung der kulturellen Teilhabe. - Gefühle
Das ist ganz einfach die Fähigkeit, Bindungen zu Dingen und Personen außerhalb des Selbst zu habe, zu lieben, zu trauern, Sehnsucht und Dankbarkeit zu empfinden. - Praktische Vernunft
Damit soll die Fähigkeit gemeint sein, sich ein Vorhaben vom Guten zu machen und kritisch über die eigene Lebensplanung nachzudenken. Diese Reflektionsfähigkeit steht in Wechselwirkung mit der Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen. - Zugehörigkeit (Affiliation)
Das spricht voll und ganz meine Begeisterung für die Polyvagal Theorie an, nämlich, die Fähigkeit, für andere und in Beziehungen zu leben; Verbundenheit mit anderen erkennen und zeigen; verschiedene Formen von familiären und sozialen Beziehungen eingehen. Aber auch, Schutz vor sozialer Diskriminierung. - Andere Arten des Seins (Other species)
Hier würde das Herz ein Freundin von mir regelrecht aufgehen. Meins auch. Die Fähigkeit, in Verbundenheit mit Tieren, Pflanzen und der Natur zu leben und pfleglich mit ihnen umzugehen. - Spiel
Diese Fähigkeit spricht meine Begeisterung für die Feldenkrais Methode an. Die Fähigkeit, zu lachen, zu spielen und Freude an erholsamen Tätigkeiten zu haben. - Kontrolle über die eigene Umgebung
Schließlich die Fähigkeit, sein eigenes Leben zu leben, politisch und materiell: politische Teilhabe, Meinungsfreiheit, Zugang zu Eigentum und Arbeit sowie Schutz vor ungerechtfertigter Einmischung.
So, das sind die zehn Fähigkeiten nach Martha C. Nussbaum. Da fragt man sich vielleicht, wie sie denn diese Fähigkeiten entwickelt hat.
Wie kam sie zu diesen Fähigkeiten? Wurde das empirisch erhoben?
Nussbaum hat ihre Liste philosophisch und normativ entwickelt, nicht primär empirisch durch Fragebögen. Sie zieht Beispiele aus verschiedenen Kulturen und Ländern, historische Quellen, literarische Werke und Gespräche über Gerechtigkeit heran, um zu argumentieren, dass diese Fähigkeiten universal wichtig sind.
Sie spricht von einem threshold-Level. Das ist ein Mindestmaß jeder Fähigkeit. Dieses Mindestmaß muss gewährleistet sein, damit Menschen ein menschenwürdiges Leben führen können. Das ist ähnlich zu der Pyramide von Maslow. In anderen Worten, was nützt mir die Selbsttranzendenz, wenn es mir an Nahrung fehlt, oder an Obdach. Ich denke, das steht für sich und braucht keine weitere Erklärung.
Eine empirische Operationalisierung gibt es, aber sie ist schwieriger, weil jede Fähigkeit viele Unteraspekte hat. In einigen Studien und Indizes (z. B. Human Development Index, capability-basierte Entwicklungsmaße) werden Proxy-Indikatoren verwendet, also Stellvertreter- bzw. Ersatzmaße, wenn die eigentlichen Fähigkeiten (Capabilities) oder deren Realisierung (Functionings) nicht direkt messbar sind.
Im Rahmen des Befähigungsansatzes wird betont, dass der Fokus nicht primär auf den Mitteln (z. B. Einkommen, Ressourcen) liegt, sondern auf den realen Freiheiten und Möglichkeiten („Capabilities“) sowie den erzielten Zuständen („Functionings“) – also auf dem, was Menschen tatsächlich tun oder sein können. Da viele Fähigkeiten jedoch nicht direkt beobachtbar oder quantifizierbar sind, nutzen Forschende stattdessen Indikatoren, die als Proxy verstanden werden: z. B. Bildungserwerb, Lebenserwartung oder Wohnungsausstattung als Stellvertreter für Fähigkeiten wie „gesund leben“, „gebildet sein“ oder „in Sicherheit leben“.
Zentral!
Ein zentraler Punkt: Nussbaum sieht diese Fähigkeiten nicht als Wünsche, die man erfüllen kann, sondern als Verpflichtungen, die eine Gesellschaft garantieren sollte, zumindest bis zu Mindestniveaus. Sie beruft sich dabei auf philosophische Argumente, Beispiele aus der Lebenswelt, und normative Überlegungen zu Würde und Gerechtigkeit; empirische Messungen spielen eine Rolle bei der Diskussion um Politik und Entwicklung, aber nicht als Ursprung der Liste.
Nussbaums Theorie bietet eine spannende Ergänzung zu Maslow, Fromm und Grawe: Sie verbindet normative Forderungen mit praktischer Politik, betont Freiheit und Chancengerechtigkeit und stellt weniger eine strikte Rangordnung auf, sondern fordert, dass alle Fähigkeiten gesichert sein sollen, damit ein Leben möglich ist, das Menschen als lebenswert empfinden.
Vergleich mit Maslow, Fromm und Grawe
Ähnlich wie bei Maslow, betont auch Nussbaum Bedürfnisse / Fähigkeiten, ohne allein auf subjektives Wohlbefinden zu setzen. Aber Maslow ordnet hierarchisch (basale Bedürfnisse unten, Selbstverwirklichung oben), während Nussbaum nicht eine strikte Hierarchie annimmt, sondern Mindestniveaus und Verpflichtungen, die politisch und sozial gesichert werden sollten.
Fromm und Grawe haben Modelle, die psychische Bedürfnisse (z. B. Bindung, Autonomie, Kompetenzerleben) in psychotherapeutischen Kontexten beschreiben; Nussbaums Ansatz ist breiter, normativ-politisch und international.
Während Maslow oft in Ratgebern Verwendung findet, ist Nussbaum stärker in der politischen Philosophie, Entwicklungsökonomie und Gerechtigkeitstheorie verortet.
Schlusswort
Wenn wir Grawes psychologische Perspektive mit Nussbaums philosophischem Denken verbinden, entsteht ein ganzheitlicher Blick auf den Menschen: Bedürfnisse und Fähigkeiten sind zwei Seiten derselben Medaille. Bedürfnisse zeigen uns, was wir innerlich zum Leben brauchen. Fähigkeiten zeigen, was wir äußerlich brauchen, um dieses Leben zu verwirklichen. Erst im Zusammenspiel beider entsteht echte Lebendigkeit, also die Möglichkeit, in Beziehung zu sich selbst, zu anderen und zur Welt zu treten.
Der Capabilities Approach öffnet dafür ein weites Feld. Er erinnert uns daran, dass Heilung und Entfaltung nicht allein im Inneren stattfinden, sondern auch in den Bedingungen, die uns umgeben. Es reicht nicht, Bedürfnisse zu verstehen, sie müssen auch gelebt werden können. Das bedeutet, sowohl die inneren Ressourcen zu stärken als auch äußere Räume zu schaffen, in denen menschliche Entwicklung überhaupt möglich wird.
In der Praxis heißt das: Wir unterstützen Menschen nicht nur darin, ihre Bedürfnisse zu erkennen, sondern auch darin, die Fähigkeiten und Freiheiten zu entwickeln, sie zu leben, mit Bewusstheit, Verbundenheit und Verantwortung. Vielleicht ist das letztlich die tiefste Form von Gerechtigkeit und Gesundheit: Bedingungen zu schaffen, in denen jeder Mensch die Freiheit hat, das zu werden, was in ihm angelegt ist und zugleich genug innere Sicherheit besitzt, um sich darauf einzulassen.
So schließt sich der Kreis zwischen Psychologie und Philosophie, zwischen Bedürfnis und Fähigkeit, zwischen Innenwelt und Welt. Es ist die Bewegung hin zu einem Leben in Verbindung, mit sich, mit anderen, mit dem Leben selbst.
Literatur:
- Nussbaum, Martha C. (1998). Gerechtigkeit oder Das gute Leben. Gender Studies. Berlin: Suhrkamp Verlag
- Nussbaum, M. C. (2011). Creating Capabilities: The Human Development Approach. Belknap Press/Harvard University Press.
- Stewart, F. (2013). “Nussbaum on the Capabilities Approach”. Journal of Human Development and Capabilities, 14(1), 156–160.
- Weibel, Benedikt (2014). Simplicity - Die Kunst, die Komplexität zu reduzieren. Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung
Bilder:
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