Nachdem wir uns zuvor mit Abraham Maslow und Erich Fromm befasst haben, folgt nun ein dritter Blickwinkel: der des Psychotherapeuten und Forschers Klaus Grawe. Ich muss ja ehrlich zugeben. Den finde ich echt toll. Seit dem Studium lässt mein Kopf ihn nicht mehr los. Er entwickelte mit der Konsistenztheorie ein Modell, das versucht, die psychologischen Grundbedürfnisse des Menschen und deren Bedeutung für psychische Gesundheit in ein einheitliches System zu fassen.
Wer war Klaus Grawe eigentlich?
Klaus Grawe (1943–2005) war ein Psychologe und Psychotherapeut, der durch seine empirisch fundierte Psychotherapieforschung international bekannt wurde. Sein zentrales Anliegen war, die Wirksamkeit von Psychotherapie wissenschaftlich abzusichern und die unterschiedlichen Schulen (Psychoanalyse, Verhaltenstherapie, tiefenpsychologische sowie humanistische Ansätze und Systemische Therapie) zu integrieren. Mit seiner Allgemeinen Psychotherapie (Grawe, 1998) legte er die Grundlage für eine schulenübergreifende, evidenzbasierte Psychotherapie. Die Konsistenztheorie bildet darin das theoretische Fundament.
Was ist die Konsistenztheorie?
Im Kern geht es Grawe darum, dass psychisches Wohlbefinden entsteht, wenn die psychologischen Grundbedürfnisse eines Menschen befriedigt sind. Werden diese dauerhaft verletzt oder blockiert, entsteht Inkonsistenz. Das ist ein Zustand, der als psychischer Stress erlebt wird und langfristig psychische Störungen hervorruft (Grawe, 2004). Dabei unterscheidet Grawe verschiedene Ebenen:
- Grundbedürfnisse (evolutionär verankerte Motive)
- Motivationale Schemata (Annäherung vs. Vermeidung)
- Ziele (konkrete Handlungsabsichten)
- Erleben und Verhalten (Abgleich von Realität und Zielerreichung)
Das oberste Prinzip lautet: Das psychische System strebt nach Konsistenz – also Übereinstimmung zwischen Bedürfnissen, Zielen und tatsächlichem Erleben. Schauen wir mal näher auf die Bedürfnisse. Grundbedürfnisse sind wichtig, sei es Sicherheit, Orientierung oder Lustgewinn, denn sie tragen maßgeblich zu unserem Menschsein bei.
Die vier psychologischen Grundbedürfnisse nach Grawe
Grawe (2004) definiert vier universelle Grundbedürfnisse:
- Orientierung und Kontrolle
Menschen wollen ihre Umwelt verstehen und das Gefühl haben, Einfluss nehmen zu können. Dieses Bedürfnis vermittelt Sicherheit und Vorhersagbarkeit. Wenn dieses Bedürfnis befriedigt ist, kann Vertrauen, Stabilität und Handlungsfähigkeit entstehen. Fehlt es vor allem an Stabilität und Vertrauen, aufgrund einer Nichterfüllung des Bedürfnisses, kann dies einen Menschen hilflos und ohnmächtig machen. Er könnte einen starken Kontrollverlust erleben. Dies kann Tür und Angel für Angststörungen und affektive Störungen öffnen. - Lustgewinn und Unlustvermeidung
Dieses Bedürfnis ist hedonistisch motiviert: Freude erleben, Leid vermeiden. Es dient dem kurzfristigen Wohlbefinden und langfristig der Motivation. Wenn dieses Bedürfnis befriedigt ist, bringt es positive Emotionen mit sich, gesteigerte Motivation und vor allem Lebenszufriedenheit. Wenn es allerdings Schwierigkeiten damit gibt, kann dies zu einer dauerhaften Frustration führen, in Erschöpfung resultieren oder Anhedonie (Verlust der Freude) verursachen. Eine Sache möchte ich noch anmerken.
Die hedonistische Tretmühle ist im Prinzip das Hamsterrad fürs Glück. Egal wie sehr wir Gas geben, neues Handy, neuer Job, neues Auto, nach kurzer Euphorie landen wir wieder bei unserem alten Glücks-Grundpegel. Kurz gesagt: Wir rennen ständig Dingen hinterher, die uns glücklich machen sollen, aber das Laufband stellt sich automatisch schneller und schwupps, stehen wir wieder da, wo wir angefangen haben. Die Schattenseiten der hedonistischen Tretmühle sind ziemlich tückisch. Der endlose Konsum führt dazu, dass man sich rasant an Neues gewöhnt, ständig mehr braucht und somit auf Gefahr läuft, im Dauer-Shopping oder Karriereklettern stecken zu bleiben. Das schafft dann eine Menge Frust statt Glück. Das liegt daran, dass das Glücksgefühl schnell verpufft und dann stellt sich Enttäuschung ein. Wir setzen quasi alles auf ein Pferd. Wer nur auf äußere Belohnungen setzt, verpasst oft die stabileren Quellen von Zufriedenheit. Das wären unter anderem Beziehungen, Sinn und Selbstakzeptanz. - Bindung
Menschen sind soziale Wesen. Das Bedürfnis nach Nähe, Zugehörigkeit und stabilen Beziehungen ist zentral für Identität und psychische Gesundheit. Hier kann Geborgenheit, Vertrauen und Resilienz entstehen, sofern diese Bedürfnisse befriedigt sind. Einsamkeit, Trennungsangst, soziale Phobien oder depressive Rückzugstendenzen resultieren, wenn das Bindungsbedürfnis über einen längeren Zeitraum nicht befriedigt wird.
Schon die klassischen Experimente von Harry Harlow (1959) mit Rhesusaffen zeigten, dass Bindung nicht primär über Nahrung, sondern über Wärme, Nähe und Zuwendung entsteht. John Bowlby (1988) entwickelte daraus die Bindungstheorie, nach der stabile emotionale Beziehungen die Grundlage für Sicherheit und Exploration bilden. Auch neuere Forschungen, etwa von John Cacioppo (2008), belegen, dass soziale Verbundenheit nicht nur psychisch, sondern auch körperlich schützt – während Einsamkeit nachweislich Stress, Krankheitsrisiken und Sterblichkeit erhöht. - Selbstwerterhöhung und -schutz
Wir wollen uns als wertvoll und kompetent erleben. Das Bedürfnis nach Selbstwert reguliert Motivation, Mut und Selbstvertrauen. Können wir dieses Bedürfnis befriedigen, entsteht mehr an Selbstvertrauen, an Stolz und vor allem an innerer Stärke. Selbstwerteinbrüche gehen allerdings auch mit Scham, und Minderwertigkeitsgefühlen einher. Es besteht zudem die Gefahr der narzisstischen Kompensation. Was bedeutet das?
Wenn das Bedürfnis nach Wertschätzung und Selbstwertstabilisierung verletzt wird durch Kritik, Zurückweisung oder mangelnde Anerkennung, entsteht Inkonsistenz. Um diese innere Spannung zu regulieren, kann eine Person eine narzisstische Kompensation entwickeln, ein Verhalten, das den Selbstwert künstlich aufpumpt. Typische Strategien wären etwa: übermäßiges Streben nach Anerkennung und Erfolg, demonstratives Selbstlob oder Überlegenheitsgefühle, das Abwerten anderer, um sich selbst besser zu fühlen.
Diese vier Bedürfnisse sind nicht voneinander isoliert: Sie wirken zusammen und müssen in Balance stehen. Werden sie dauerhaft nicht erfüllt, entsteht Inkonsistenz.
Motivationale Schemata: Annäherung vs. Vermeidung
Um Bedürfnisse zu befriedigen, entwickeln Menschen motivationale Schemata. Davon unterscheidet Grawe zwei:
- Annäherungsschemata: aktive Strategien, um Bedürfnisse positiv zu erfüllen (z. B. Nähe suchen, Leistung zeigen).
- Vermeidungsschemata: Schutzstrategien, um Verletzungen zu vermeiden (z. B. Konflikte meiden, Rückzug).
Beide Systeme sind gleichzeitig aktiv. Ungünstig wird es, wenn Vermeidung die Annäherung blockiert. Dann entsteht ein innerer Konflikt, den Grawe Diskordanz nennt, was eine Form der Inkonsistenz darstellt. Welche Formen gibt es noch?
Formen von Inkonsistenz
Grawe unterscheidet mehrere problematische Zustände, wenn Bedürfnisse nicht erfüllt werden:
- Inkongruenz: Realität stimmt nicht mit Bedürfnissen/Zielen überein.
- Diskordanz: widersprüchliche Motivationen blockieren einander.
- Interferenz: widersprechende Reaktionstendenzen.
- Kognitive Dissonanz: widersprüchliche Gedanken oder Einstellungen.
- Dissoziation: implizite und explizite Überzeugungen passen nicht zusammen.
Alle Formen erzeugen Stress und können zu psychischen Störungen beitragen. Da stellt sich nun die Frage, was da jetzt eine Regulationsstrategie wäre.
Konsistenzregulation
Das psychische System verfügt über Mechanismen, um Inkonsistenz zu reduzieren – bewusst und unbewusst. Beispiele sind:
- Coping-Strategien (aktives Problemlösen oder Vermeidung),
- Emotionsregulation (z. B. Neubewertung, Unterdrückung),
- Abwehrmechanismen (z. B. Verdrängung).
Diese Prozesse sind überlebenswichtig, aber nicht immer gesundheitsförderlich, insbesondere die Abwehrmechanismen, aber auch die Vermeidung und die Unterdrückung (Grawe, 2004).
Konsequenzen
Grawe betont: Psychische Probleme sind nicht nur individuelle Defizite, sondern Resultate einer gestörten Bedürfnisbefriedigung. Therapeutisch bedeutet das:
- Stärkung von Orientierung und Kontrolle (z. B. durch Psychoedukation),
- Förderung positiver Bindungserfahrungen (z. B. therapeutische Beziehung, soziale Unterstützung),
- Aufbau von Selbstwert (z. B. Ressourcenarbeit, Erfolgserlebnisse),
- Steigerung von Lustgewinn (z. B. angenehme Aktivitäten, Achtsamkeit).
Gesellschaftlich verweist Grawe darauf, dass Strukturen geschaffen werden sollten, die die Befriedigung dieser Grundbedürfnisse ermöglichen – sei es im Arbeitsleben, im Bildungssystem oder in sozialen Netzwerken.
Und nun?
Die Konsistenztheorie nach Grawe zeigt: Psychische Gesundheit beruht auf dem Zusammenspiel weniger, aber fundamentaler Grundbedürfnisse. Werden sie befriedigt, können Menschen sich entfalten, Beziehungen gestalten und kreativ tätig sein. Werden sie verletzt, entstehen Stress, Konflikte und Störungen.
Das Positive an Grawes Modell: Es macht Mut. Denn wenn wir die Bedingungen schaffen – im persönlichen Leben wie auch gesellschaftlich, unter denen diese Bedürfnisse erfüllt werden können, wächst nicht nur unsere Widerstandskraft, sondern auch unser Potenzial für Freude, Verbundenheit und Selbstverwirklichung.
Literatur:
- Bowlby, J. (1988). A Secure Base: Parent-Child Attachment and Healthy Human Development. New York: Basic Books.
- Cacioppo, John T. & Patrick, William (2008). Loneliness. Human nature and the need for social connection. New York: W.W. Norton
- Grawe, K. (1998). Psychologische Therapie. Göttingen: Hogrefe.
- Grawe, K. (2004). Neuropsychotherapie. Göttingen: Hogrefe.
- Harlow, H. F. & Zimmermann, R. R. (1959). Affectional responses in the infant monkey; orphaned baby monkeys develop a strong and persistent attachment to inanimate surrogate mothers. Science (New York, N.Y.), 130(3373), 421–432. https://doi.org/10.1126/science.130.3373.421
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