Ich will in die Verbindung kommen! Dieser Satz wirkt leise und kraftvoll zugleich. Er ist kein bloßes Bedürfnis, sondern ein inneres Wissen: Da ist etwas, das fehlt. Da ist eine Lücke zwischen dem, was ich erlebe – und dem, was ich wirklich bin. Vielleicht spürst du dieses Wissen auch. Vielleicht wird es in stressigen Momenten spürbar, wenn du dich fremd in deinem eigenen Leben fühlst. Vielleicht wird es spürbar in der Stille, in der Einsamkeit, in der Natur. Und ganz sicher wird es spürbar in deinem Körper, wenn du ihm erlaubst, wieder Heimat zu sein.
Doch was genau bedeutet es, in Verbindung zu kommen? Und was hat das mit dem Selbst, mit Selbstwert, Selbstliebe und Selbstvertrauen zu tun? Dieser Text lädt dich zu einer tieferen Auseinandersetzung ein – mit dir selbst und der Welt, in der du lebst.
Verbindung beginnt mit dem Hier und Jetzt
Verbindung ist nichts, was wir machen – sie geschieht, wenn wir aufhören, uns zu stören. Im Zustand von Stress, innerem Druck oder gedanklicher Zersplitterung ist unser Fokus nach außen gerichtet. Wir analysieren, planen, vergleichen, kontrollieren. Unser Nervensystem bleibt in Alarmbereitschaft. Der Körper wird zur Bühne für Anspannung, nicht zur Quelle von Sicherheit.
Dazu passt Gabor Matés Analyse der heutigen toxischen Normalität, die unsere Fähigkeit zur authentischen Verbindung stört: "Disconnection is the norm in our society, not the exception. In fact, it’s so normalized that most of us don’t even recognize it as a problem anymore" (Maté & Maté, 2022, S. 21). Diese Entfremdung beginnt im frühen Leben und prägt unser ganzes Selbstverständnis. Heilung beginnt, so Maté, nicht durch äußere Veränderung, sondern durch ein Wieder-in-Beziehung-Treten zu uns selbst.
Doch wenn wir den Fokus wieder nach innen richten – sanft, absichtslos, forschend –, beginnt ein anderes Netzwerk in uns zu arbeiten: das Ruhezustandsnetzwerk, neurologisch belegt als Default Mode Network. In diesem inneren Raum geschieht Integration. Hier verbinden sich Erfahrungen, Emotionen, Erinnerungen, und kreative Prozesse werden möglich. Und hier entsteht auch das, was wir Verbindung nennen – zu uns selbst, zu unserem Körper, zu unserem Leben.
Das Selbst ist ein Werden – kein Zustand
Das Selbst ist ein sich entwickelndes System. Das Selbst ist nichts Festes, sondern ein Prozess, der durch Beziehung, durch Resonanz und durch Erfahrung geformt wird. Diese Sicht auf das Selbst als prozesshaft und durch Beziehung geformt, findet auch in der initiatischen Therapie von Karlfried Graf Dürckheim Ausdruck. Für ihn besteht der Sinn therapeutischer Arbeit nicht darin, den Menschen bloß wieder leistungsfähig für die Welt zu machen, sondern vielmehr darin, „ihn immer mehr in die Lage zu versetzen, die Stimme seines eingeborenen Wesens zu hören“ (Künne, 2004, S. 3). Das Selbst wird hier verstanden als ein werdendes, durchlässiges Gefäß für etwas Größeres – ein inneres Wesen, das nicht optimiert, sondern erinnert, entfaltet und befreit werden will. In dieser Resonanz mit dem Wesentlichen wird Verbindung möglich: nicht als Zustand, sondern als lebendiger Prozess der Rückbindung.
Unser Selbstbild entsteht aus unzähligen Puzzleteilen: Wie uns andere sehen, wie wir uns selbst erleben, wie wir Erfolge und Niederlagen verarbeiten, wie wir fühlen. Im besten Fall stimmen Selbstkonzept (was ich über mich denke) und Selbstbild (was ich tief in mir fühle) weitgehend überein. Doch in vielen von uns klafft da eine Lücke.
Vielleicht weißt du kognitiv, dass du "gut genug" bist, und fühlst dich trotzdem oft nicht genug. Vielleicht spürst du im Körper Druck, Unsicherheit oder Leere, obwohl dein Leben im Außen gut läuft. Genau hier beginnt der Weg der Selbstentwicklung: nicht als Optimierung, sondern als Heimkehr.
Verbindung und Selbstwert – zwei Seiten einer Erfahrung
Der Selbstwert kann als das Fundament, auf dem Vertrauen, Resilienz und Liebesfähigkeit gedeihen, gesehen werden. Doch Selbstwert entsteht nicht durch Leistung, sondern durch Verbindung. Ein Kind, das sich geliebt fühlt, entwickelt Vertrauen – nicht nur in andere, sondern auch in sich selbst. Ein Erwachsener, der sich in seinem Körper spürt, sich regulieren kann, sich annehmen lernt, entwickelt ebenfalls Vertrauen – in die eigene Kraft, in das Leben.
Verbindung ist kein Luxus. Sie ist der Nährboden für ein stabiles Selbst. Und dieses Selbst braucht Räume: Räume für Stille, für Bewegung, für Beziehung, für Integration. In diesen Räumen kann das Selbst wachsen, ohne besser werden zu müssen. In diesen Räumen geschieht Selbstannahme. Vielleicht die kraftvollste Form der Selbstliebe.
Selbstliebe ist keine Nabelschau
Was wir heute oft unter Selfcare verstehen, hat nicht viel mit echter Selbstliebe zu tun. Selbstliebe ist kein Egoismus, sondern die Grundlage für Menschlichkeit. Echte Selbstliebe zeigt sich nicht im Spiegelbild, sondern im Mitgefühl – mit uns selbst und mit allem Leben. Wer sich wirklich liebt, wird kein Tier quälen, keinen Menschen demütigen, keine Umwelt zerstören. Wer sich wirklich liebt, erkennt, dass er Teil eines Ganzen ist – nicht Zentrum.
Diese Sichtweise wird auch von der Emotionsphilosophie gestützt. Der Philosoph Martin Hartmann beschreibt Gefühle wie Mitgefühl nicht als bloß subjektive Innenerlebnisse, sondern als spezifische Formen des Weltbezugs: „Gefühle sind eine Art, die Welt zu sehen – nicht bloß innere Zustände, sondern Formen des Weltbezugs“ (Hartmann, 2005, S. 97). Selbstliebe, verstanden als mitfühlende Haltung sich selbst gegenüber, wird so zur ethischen Praxis in Beziehung zur Welt. Sie begründet Verantwortung – nicht nur für das eigene Wohlergehen, sondern auch für das der Mitmenschen, der Tiere, der Umwelt.
Deshalb ist Selbstliebe politisch. Ökologisch. Spirituell. Und sie beginnt ganz konkret: In der Art, wie du atmest. In der Art, wie du dich bewegst. In der Art, wie du mit dir selbst sprichst, wenn du versagt hast. Oder, in einem „Danke“, das du am Ende einer Atemübung an dich selbst richtest.
Die große Verbindung: Selbst – Welt – Leben
Was entsteht, wenn wir diese Fäden zusammenweben?
- Selbstsein ist keine Position, sondern ein Prozess.
- Selbstwert entsteht durch Bindung und verkörperte Erfahrung.
- Selbstliebe ist gelebte Verantwortung.
- Verbindung ist das Medium, in dem all das geschieht.
Wir leben in einer Zeit, in der Trennung das Grundgefühl vieler Menschen ist: Trennung vom Körper, von anderen, von der Natur, von Sinn. Umso dringender braucht es eine Praxis, eine Haltung, einen Weg der Rückverbindung. Dieser Weg ist kein Luxus, sondern Voraussetzung für psychische Gesundheit, für soziale Kohärenz und für eine lebenswerte Zukunft. Wer sich selbst nicht schätzt, dem ist auch die Welt um ihn herum vollkommen egal. Es geht ums immer-wieder-tun, es geht um Verbindung.
Fazit – Was du heute tun kannst
Du brauchst kein Retreat. Keine App. Keine neue Version von dir selbst. Du brauchst nur einen Moment der Wahrhaftigkeit:
- Lege dich auf den Boden.
- Atme.
- Spüre deine Fersen, dein Becken, deine Schulterblätter.
- Spüre, wie du gehalten wirst.
- Sag zu dir: Danke. Verbunden. Jetzt.
Und vielleicht – nur vielleicht – beginnt in diesem Moment etwas zu heilen, das lange getrennt war.
Literatur:
- Hartmann, M. (2005). Gefühle. Wie die Wissenschaft sie erklärt. Campus Verlag
- Künne, R. (2004). Karlfried Graf Dürckheim. Eine biografische Analyse des großen spirituellen Lehrers auf anthroposophischer Grundlage. Unveröffentlichtes Manuskript
- Maté, G. & Maté, D. (2022). The myth of normal: Trauma, illness and healing in a toxic culture. Avery
Bilder:
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